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Die Demokratie und ihre Feinde

Von Thomas Nowotny

Gastkommentare
Thomas Nowotny ist Dozent für Politikwissenschaft. Er war Diplomat und einst Sekretär von Bundeskanzler Bruno Kreisky.
© privat

Wird die künftige weltpolitische Ordnung eine demokratische sein?


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Noch vor zwanzig Jahren hat sich die Frage nicht gestellt. Demokratie galt als die für alle Zukunft unangefochtene und weltweite Norm, oder zumindest als das angestrebte Ziel. Sowohl Europa als auch die USA waren überzeugt, mit ihrem weltweiten Engagement für Demokratie zum Wohle der betroffenen Bevölkerung zu handeln; und im Sinne einer unabwendbaren, die ganz Welt umspannenden Entwicklung.

Das hat sich als Irrtum erwiesen. Der Raum der Demokratien schrumpft, statt sich zu weiten. Noch vor zwölf Jahren wurde die Hälfte der Weltbevölkerung demokratisch regiert; 2021 jedoch nur noch ein Drittel. Der Abschied von der Demokratie erfolgt heute weniger durch gewaltsame Staatsstreiche oder Militärputsche; Demokratien zerfallen vielmehr aus ihrem Inneren heraus. Aus konsolidierten Demokratien werden defekte Demokratien; aus defekten Demokratien werden Scheindemokratien; und aus diesen werden am Ende autoritäre Regimes.

Die Demokratie verfällt nicht nur in Staaten, wo sie sich erst vor kurzem etabliert hat. Sie erodiert auch in seit langem demokratischen Staaten; ja selbst in den USA und im Vereinigten Königreich; in Staaten also, von denen die weltweite Demokratisierung ursprünglich ihren Ausgang nahm. Österreich folgt diesem Trend. Auf dem von der University of Gothenburg erstellten "Liberal Democracy Index", hat sich Österreichs Position verschlechtert. Es zählt gemäß diesem Index nicht länger zu den "liberalen Demokratien" und muss sich mit einem Platz auf der Liste der bloßen "Wahldemokratien" begnügen.

Vier einander gegenseitig verstärkende Entwicklungen treiben den Niedergang der Demokratie voran:

Druck von außen durch nicht-demokratische Staaten;

soziale und wirtschaftliche Entwicklungen;

tiefgreifende Veränderungen in der Natur und im Austausch von Information;

modernen Demokratien offenbar innewohnende Kräfte der Selbstzerstörung.

Größte Gefahren von innen

Demokratien können durch gezielte Aggression anderer Staaten beschädigt werden, so wie das Russland durch Desinformation, Cyberangriffe, finanzielle Unterstützung antidemokratischer Parteien und anderes praktiziert. Wirksamer als diese russische aggressive Einflussnahme ist die Einflussnahme durch China. Mit seinem spektakulären wirtschaftlichen Aufstieg hat China die herkömmliche Meinung, die wirtschaftliche und die demokratische Entwicklung wären miteinander verknüpft und würden einander gegenseitig bestärken, widerlegt. Chinas wachsender Einfluss in Entwicklungsländern zeigt, dass sein Vorbild viele überzeugt.

Dennoch ist die Demokratie weltweit weniger durch äußere Einflussnahme von Staaten wie China oder Russland gefährdet als vielmehr durch den schwindenden Rückhalt in der Gesellschaft. Das ist die Folge von wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen; und vor allem die Folge von Veränderungen in der Weise, in der sich durch Kommunikation Meinungen herausbilden und verfestigen.

Die Demokratie kann sich nur entfalten, wo Staaten in der Lage sind, politische Entscheidungen wirksam umzusetzen. Das verlangt, dass Staatgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt zu einer in sich geschlossenen Einheit verschmolzen sind. Diese Einheitlichkeit ist heute nicht länger gegeben. Heute verfügt kein Staat ausschließlich und alleine über sein Territorium und über die darauf lebenden Bürger. Die gegenseitige wirtschaftliche Durchdringung hat dieses Monopol unterlaufen. Das schwächt die Bedeutung von Staaten und damit die Bedeutung der Demokratie.

Daneben lockert sich der für Demokratien wichtige gesellschaftliche Zusammenhalt durch wachsende Polarisierung und Ungleichheit als Folge einer weitgehend durch das Finanzkapital bestimmten Weltwirtschaftsordnung sowie der Neuordnung des Arbeitsmarktes mit seiner Spaltung in einen Niedrig- und einen Hochlohnsektor. Ein verändertes Kommunikationsverhalten hat dieses Auseinanderfallen der Gesellschaft beschleunigt und verfestigt. Man trifft sich nicht länger auf einem allen zugänglichen Platz. Es gibt nicht länger einen die gesamte Gesellschaft einschließenden Diskurs.

Die Folgen für die Demokratie sind fatal. Denn diese hat zur Voraussetzung, dass es unter Bürgerinnen und Bürgern eine Übereinstimmung darüber gibt, was als gegeben, was als wirklich hingenommen werden muss; und eine Übereinstimmung darüber, welche Aufgaben sich aus dieser Wirklichkeit ergeben. Was real sein soll, wird jedoch in den Sozialen Medien von unterschiedlichen, voneinander abgeschotteten Gruppen beliebig definiert: Donald Trump hat die Wahlen gewonnen; ein Anti-Wurm-Medikament für Pferde schützt vor Covid; Juden haben mit Lasern aus dem Weltall Kaliforniens Wälder in Brand gesteckt . . .

Diskurs und Konsens

Dem Schwinden einer allen gleich zugänglichen Plattform für Diskurs und Konsensbildung entspricht der Niedergang politischer Einrichtungen, in denen Diskurs konsolidiert und zu Konsens umgewandelt werden konnte und sodann Konsens in allgemein verbindliche politische Entscheidungen. Die einstigen politischen Großparteien hatten diese Funktion. Heute sind sie zumeist zu einer sich selbst ergänzenden Oligarchie von Berufspolitikern verkommen. Getrieben vom alles überlagerndem Interesse an Machterhalt und Machtgewinn, folgen die meisten politischen Parteien nur noch passiv einem von Meinungsumfragen und Boulevardmedien vorgegebenen Kurs.

Status und Selbstverwirklichung suchen viele politisch Engagierte heute nicht länger durch Tätigkeit in Einrichtungen, die operativ in dem Sinne sind, dass sie Gesetze erzeugen. Sie flüchten stattdessen zu den unterschiedlichsten Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Das schafft Identität nicht zuletzt durch die so geschaffene Distanz zu Berufspolitikern. Diese müssen ihrer Funktion gemäß Kompromisse eingehen, die NGO-Mitglieder als faul ablehnen und damit ihr Ideal und ihre Identität vor Beschädigung durch irgendwelche Abstriche schützen können.

Zahlreiche Gruppen - NGOs, Interessenvertretungen, Sekten, Naturheiler, Weltkonzerne, Technikgläubige und Fortschrittsskeptiker - stehen beziehungslos nebeneinander. Es gibt keine einende Sicht auf ein all diese Gruppen umfassendes Gemeinwohl. Und was für Gruppen gilt, gilt auch für Individuen. Auch ihnen mangelt es zunehmend an Verständnis für den Nächsten, an Empathie und Solidarität. Das ist letztlich das tiefer sitzende und grundlegendere Übel für die Demokratie. In schweren Krisen und bei großen Herausforderungen müssen Menschen zusammenstehen, denn sie lassen sich nur in solidarischem Zusammenwirken bewältigen. Ist aber dann einmal satter Wohlstand gesichert, ersetzt in der Gesellschaft das Prinzip der Konkurrenz jenes der Solidarität.

Zusammenhalt nur in Krisen

Ähnliches gilt für die Politik. Solange die großen Herausforderungen klar erkennbar und dringend sind, wird politische Zusammenarbeit honoriert. Politik wird dann von der Mitte bestimmt. Bei großen Krisen, etwa in Kriegs- oder Nachkriegszeiten, haben es die traditionellen Großparteien vermieden, Zwiespalt zu säen, um sodann von der Polarisierung zu profitieren. Verschwimmt aber mit wachsendem Wohlstand und zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung die Sicht auf einigende, große Aufgaben, folgt Politik nicht länger den Interessen und Ansichten der gesellschaftlichen Mitte. Stattdessen wird sie von den lautstärkeren Kräften an den radikaleren Enden des politischen Spektrums bestimmt. Identitätspolitik ersetzt Sachpolitik.

Das zeigt Österreichs jüngere Geschichte. Als es galt, Kriegsschäden zu beseitigen, wirtschaftlich aufzuholen, "europareif" zu werden und im Ost-West-Konflikt nicht aufgerieben und geteilt zu werden, war die Politik bestimmt von der Koalition der beiden großen Massenparteien und der Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmern und Arbeitern. Dann aber, in der Ära des neu erreichten Wohlstands, zerbrach die Koalition zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten, und im Kampf um die Gunst der Bürger setzten sie sich stärker voneinander ab. Politik mutierte von einem Miteinander zu einem - oft schauspielhaften - Gegeneinander.

Dabei gerieten nicht nur in Österreich die traditionellen Großparteien - und mit ihnen die gesamte Politik - verstärkt in den Sog neu entstandener Parteien, vornehmlich am extremeren rechten Ende des politischen Spektrums. Es gab daher nicht nur in Österreich, sondern in fast allen reifen Demokratien einen Rechtsruck bis hin zur demokratiegefährdenden, national-populistischen Absage an Modernität. Das Zukunftsgerichtete, das Progressive, das Optimistische, das Gestaltungsfreudige trat in den Hintergrund zugunsten der Sorge um den Erhalt des Bestehenden oder sogar der Sehnsucht nach einer Rückkehr zu einer idealisierten, von Globalisierung, Multikulturalismus und dem Zustrom unerwünschter Ausländer noch "unverschmutzten" Vergangenheit.

Das Demos verloren

Dieses Abgleiten ins Rechtsextreme ist emotional aufgeladen. mit latenter Gewaltbereitschaft. Manchmal hat sie sich bereits in Taten umgesetzt: etwa im Sturm auf das US-Kapitol und auf Regierungsgebäude in Brasilia sowie in von Gewalt begleiteten Demonstrationen in Frankreich. Was treibt Menschen zu solcher Missachtung gesellschaftlicher Grundwerte und zu auflodernder Wut gegen demokratische Einrichtungen? Sind sie denn nicht Nutznießer einer langen Zeit friedlicher, von der Demokratie geleiteten Entwicklung, in der sich Wohlstand vervielfacht hat, die durchschnittliche Lebenserwartung drastisch verlängert und die Bürde schwerer Arbeit leichter wurde und sich mehr Menschen als zuvor bilden und weiterbilden konnten?

Offensichtlich hat all das wenig Gewicht im Vergleich zu einer tiefen Enttäuschung hoher Erwartungen; der Entfremdung von einer Welt, deren Komplexität Bürger erahnen, fürchten und negieren wollen; und der als beleidigend empfundenen Missachtung eines Anspruchs auf Anerkennung und Wertschätzung. Diese Enttäuschten, Verbitterten, Gewaltbereiten sehen sich nicht als Bürger, die aktiv und wirksam über demokratische Einrichtungen den Weg der Gesellschaft bestimmen können, sondern als Opfer einer fernen, fremden, ihnen missgünstigen und sie verachtenden Elite.

Der Demokratie ist das Demos, das selbstbewusste Wahlvolk, abhanden gekommen. Wähler werden von Mandataren hofiert, geködert, bestochen. Aber ihrer eigentlichen Pflicht, zukunftsoffen und gestaltungsfreudig die großen politischen Linien festzulegen, wollen und können sie nicht nachkommen. Kann die Demokratie wieder repariert und gestärkt werden? Es muss jedenfalls versucht werden, auch wenn die Aufgabe übergroß zu sein scheint. Unerlässlich dabei wäre ein Wandel der ins seicht Populistische verkommenen politischen Kultur. Das Handeln in Wahrheit und das Aussprechen von Wahrheit müssen wieder zumutbar und zur Regel werden.