Eine Gruppe von intellektuellen Schwergewichten diskutiert am Wochenende in Kiew über die Zukunft der Ukraine.
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Kiew. Revolution heißt, zentrale Orte mit neuer Bedeutung aufzuladen: am Tian’anmen in Peking, wo Mao 1949 die Volksrepublik China proklamiert hat und die Kinder der Revolution dann 1989 niedergewalzt wurden. Am Tahrir-Platz in Kairo und schließlich am Maidan in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Heute ist der Maidan so etwas wie ein Open-Air-Revolutionsmuseum mit jeder Menge Folklore: Männer in Camouflage-Uniformen spielen Backgammon, Postrevolutions-Touristen machen Schnappschüsse mit ihren Mobiltelefonen. Das Bühnenbild besteht aus Autoreifen und altarartigen Andachtswinkeln für die Opfer der tödlichen Schießereien. Das alles vor der imposanten Kulisse der historischen Gebäude des imperialen Kiews, dem beeindruckenden Maidan-Platz selbst und dem ausgebrannten Gewerkschaftshaus. Der Maidan symbolisiert heute die Hoffnung auf eine neue Ukraine, in der Menschen und nicht Oligarchen die Wirtschaft, und Menschen und nicht Apparatschiks die Politik bestimmen.
Botschaft gesucht
"Die Wahlen am 25. Mai zeigen, welche Art von Gesellschaft die Ukraine sein will", sagt der Historiker der Elite-Universität Yale und Permanent Fellow des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen IWM, Timothy Snyder. "Es ist beeindruckend zu sehen, dass dieses Land diese Wahlen auch unter widrigen Umständen abhalten will. Ebenso beeindruckend - auf eine andere, negative Weise - ist es, zu sehen, dass ein anderes Land, Russland, danach trachtet, diese Wahlen zu behindern oder zu verunmöglichen", sagt Snyder. Die Wahlen seien von eminenter Bedeutung: "Das Volk hat mit seiner Revolution am Maidan gesprochen. Nun geht es darum, dass die Nation bei den Wahlen ihre Stimme ausdrücken kann."
Snyder ist einer aus einer ganzen Gruppe prominenter Intellektueller, die sich am Wochenende in Kiew versammeln, um, wie es der bekannte US-Feuilletonist des Magazins "The New Republic", Leon Wieseltier es ausdrückt, "Solidarität zu zeigen." Wieseltier, Snyder und weitere europäische und amerikanische Intellektuelle seien nach Kiew gekommen, "um zu zeigen: Wir unterstützen euer Ringen, teilen eure Werte und sind von dem, was ihr hier macht, inspiriert. Das ist einer der wichtigsten Momente in der Geschichte des noch jungen 21. Jahrhunderts", sagt Wieseltier.
Und nun sei auch der Moment gekommen, "wo man sich für eine Seite entscheiden müsse, man kann in diesem Konflikt nicht auf beiden Seiten (also aufseiten Russlands und der Ukraine, Anm.) stehen", so Wieseltier. Jerzy Pomainowski, Direktor der European Endowment for Democracy und der dritte Vertreter des Organisationskomitees des Intellektuellen-Treffens sagt vor Pressevertretern in Kiew, er hoffe, dass "all diese weisen Köpfe eine Idee entwickeln, wie man Europa und die Welt in dieser Frage einen könne". Es gehe darum, eine Botschaft an Moskau und in die Hauptstädte Europas und nach Washington zu schicken: "Putinismus ist eine Karikatur der Demokratie."
Warum Snyder diese Konferenz mitorganisiert? "Ich wollte aus dem Defensivspiel herauskommen. Einmal geht es darum, die Argumente, die Ukraine sei keine Nation zu entkräften, nur weil man die Südukraine einmal als Novorossija bezeichnet hat. Man muss die Ukraine vor den zu Unrecht erhobenen Vorwürfen in Schutz nehmen, man hätte hier überdurchschnittlich mit den Nazis kollaboriert." Es sei an der Zeit, dass Historiker und Intellektuelle die Ausgestaltung des ukrainischen Narrativs nicht der Politik überlassen - genauso wie Kiew die Erzählung der eigenen Geschichte nicht anderen überlassen dürfe: "Sonst wacht man eines Tages aus dem Revolutions-Traum auf und muss feststellen, dass jemand anderer die eigene Geschichte geschrieben hat."