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Die deutsche Rückrufaktion

Von Clemens Neuhold

Politik
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Bayerns Wirtschaftsminister Martin Zeil (FDP) streckt Arme nach Landsleuten in Österreich aus.
© Bayrisches Wirtschaftsministerium

30.000 deutsche Akademiker arbeiten in Österreich - Bayern will sie zurück.


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Wien. Das Oktoberfest wird längst nicht nur in München gefeiert. Das hinterste österreichische Dorf trägt Ende September Blau-Weiß und grölt: "O’zopft is!" In Wien wird bei den kommenden Oktoberfesten aber nicht nur Weißbier, sondern auch eine neue Quelle für den deutschen Arbeitsmarkt angezapft: Bei Weißwurscht, Brez’n und Weißbier will das bayerische Wirtschaftsministerium deutsche Akademiker und Fachkräfte überreden, nach Deutschland zurückzukehren.

Die Aktion heißt "Return to Bavaria" und ist eine Reaktion auf den massiven Mangel an Fachkräften, der Deutschland droht. Laut einer Studie fehlen bis 2030 bis zu 2,5 Millionen Akademiker. Schon jetzt gibt es Konzerne, die weit weniger produzieren, als am Weltmarkt verlangt, weil ihnen die Mitarbeiter fehlen. Streckte Deutschland seine Fühler bisher nach gut gebildeten Ausländern aus, um das Vakuum zu füllen, rücken nun Deutsche im Ausland verstärkt ins Blickfeld.

Automatisch integriert

"Es handelt sich um ein Reservoir an Fachkräften, das wir bisher noch nicht berücksichtigt haben", sagt die Projektleiterin im Ministerium, Monika Wilhelm. "Deutsche Fachkräfte im Ausland anzusprechen hat Charme, weil diese Leute mit der deutschen Kultur und Sprache vertraut sind und sich nach der Rückkehr nicht mehr groß integrieren müssen", sagt Wilhelm im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Bayern ist das erste deutsche Bundesland, dass eine derartige Aktion startet. Vergleichbare Aktionen in Nordrhein-Westfalen beschränkten sich auf junge Forscher. Nächste Woche werden in München die ersten Heimkehrer im Beisein des bayerischen Wirtschaftsministers präsentiert, darunter wird auch ein ehemaliger Wahl-Wiener aus der IT-Branche sein, verrät Wilhelm. Neben Informatikern sind die Bayern besonders scharf auf Naturwissenschafter, Ingenieure, Mathematiker und Forscher mit Arbeitserfahrung.

Warum Österreich neben der Schweiz, Großbritannien, Norwegen, den USA, Kanada und Australien ganz oben auf der Liste steht, liegt an der räumlichen und kulturellen Nähe - und an den nackten Zahlen: Rund 90.000 Deutsche arbeiten in Österreich, davon ist rund ein Drittel Akademiker. Als Arbeitsplatz für Deutsche hat Österreich über die Zeit massiv an Attraktivität gewonnen: Während heute gleich viele Österreicher in Deutschland arbeiten wie vor zehn Jahren (rund 60.000), hat sich die Zahl der Deutschen von 26.000 auf 87.000 mehr als verdreifacht.

"Bayern ist schöner"

"Offenbar sind wir als Arbeitgeberland äußerst interessant", sagt der Chef des Arbeitsmarktservice (AMS), Johannes Kopf, "viele kommen als Studenten und bleiben als Akademiker." Der Spruch auf der Homepage der Bayern: "Das Ausland ist, schön Bayern ist schöner", hat auf Wien, Innsbruck oder Salzburg gemünzt offenbar nur bedingt Gültigkeit. Doch bald werden "wunderschöne Natur, gutes Essen und ein ganz spezielles Lebensgefühl", wie es auf der Homepage heißt, auf allen medialen Kanälen beworben - bis hin zu Facebook und Twitter.

Damit wollen die staatlichen Headhunter auch im Pool der deutschen 25.000 Studenten fischen, die derzeit in Österreich studieren. Die Deutschen stellen fast 40 Prozent der Auslandsstudenten; "kluge Köpfe" kurz vom Abschluss will man mit attraktiven bayerischen Firmen zusammenbringen, die bei der Aktion eng mit dem Ministerium zusammenarbeiten. Von BMW bis Adidas sitzen namhafte Konzerne mit im Boot. Die brauchen neue Mitarbeiter mittlerweile wie früher Rohstoffe. AMS-Chef Kopf, der die Problematik auch aus Österreich kennt, gibt eine düstere Prognose ab: "Es werden Unternehmen in Konkurs gehen, weil sie nicht genügend Fachkräfte haben."

Günstige Wohnung gefällig?

Das soll den Bayern nicht passieren. Doch womit lockt "Return to Bavaria?" Mit mehr als nur Weißwurst. "Wir locken mit tollen Positionen in tollen Unternehmen und Forschungseinrichtungen", erklärt Wilhelm. Für jene, die selbst ein Unternehmen aufbauen möchten, werden bürokratische Steine aus dem Weg geräumt. Wer mit Partner und Kindern kommt, kann sich auf ausreichende Betreuung verlassen. Erfüllt nur ein Partner das Jobprofil der Headhunter, wird trotzdem versucht, für den anderen eine adäquate Stelle zu finden.

Die Anreise für das erste Bewerbungsgespräch zahlt der Staat genauso, wie Sonderkonditionen für Umzugsservice. Und sogar eine sehr günstige Wohnung für die erste Monate kann im Startpaket enthalten sein. "Viele solcher Angebote gibt es ja schon. Wir leisten dann einfach die notwendige Lotsenarbeit und nehmen die Menschen an der Hand", sagt Wilhelm.

"Sie würden fehlen"

Fachkräftemangel ist kein rein deutsches, sondern ein weltweites Problem - Österreich nicht ausgenommen. Was hieße es für Österreich, sollte die Rückholaktion der Nachbarn erfolgreich sein?

"Die deutschen Fachkräfte würden natürlich fehlen", sagt AMS-Chef Kopf. Derzeit habe Österreich noch eine "angenehmere Situation" als Deutschland. Wegen der starken Zuwanderung in den 90er Jahren tritt der demografische Knick, also eine rasche Abnahme der Arbeitskräfte wegen der Überalterung, später ein. "Wir müssen aber schon jetzt massiv gegensteuern gegen den drohenden Fachkräftemangel in der Zukunft."

Bei den Deutschen kann Österreich nur hoffen, dass sie weiterhin die österreichische der bayerischen Gemütlichkeit vorziehen und ihrer neuen Heimat treu bleiben. Aktiv gegensteuern kann Österreich jedoch beim Anwerben von Ausländern außerhalb der Europäischen Union.

Das aktuelle Mittel dafür ist die Rot-Weiß-Rot-Card, eine Art Schnellverfahren für Fachkräfte. Ausländern, die sich ihren akademischen Abschluss in Österreich geholt haben, ermöglicht die Karte einen direkten Übertritt ins Arbeitsleben. Konfrontiert mit der Aktion der Bayern drängt ein Sprecher der Wirtschaftskammer erneut darauf, die Karte auch Absolventen mit Bachelor zu gewähren. Das hat Sozialminister Rudolf Hundstorfer bisher abgelehnt. Die Wirtschaftsvertreter glauben aber, dass daran kein Weg vorbeiführt. Kopf glaubt, dass man vor allem Spitzenakademikern künftig wohl "noch stärker den roten Teppich ausbreiten" müsse.

Inländer mobilisieren

"Das Match zwischen Österreich und Deutschland um deutsche Fachkräfte ist neu", sagt ein Sprecher der Wirtschaftskammer. Bisher hat, nach den Zahlen zu schließen, Österreich den Sieg davon getragen. Im Match um ausländische Arbeitnehmer sieht Kopf aber Deutschland voran - allein wegen der Bekanntheit. Deswegen führe kein Weg daran vorbei, das Potenzial der Inländer stärker zu nutzen. Aber wie? Durch bessere Qualifikation, mehr Frauen im Erwerbsleben und weniger Frühpensionen.

Aber sind wir uns ehrlich: Fehlen würden uns die Deutschen trotzdem - oder etwa nicht?

Fachkräftemangel in Deutschland

Aufgrund der demografischen Entwicklung wird das sogenannte "Erwerbspersonenpotenzial", also die Gesamtzahl von Personen in Deutschland, die theoretisch in der Lage sind, einer Arbeit nachzugehen, bis zum Jahr 2025 um rund 6,5 Millionen Personen sinken - und damit auch das Angebot an qualifizierten Fachkräften. Prognosen verschiedener Forschungsinstitute sagen für die Zukunft eine deutliche Zuspitzung des Fachkräfteengpasses voraus. Eine McKinsey-Studie rechnet mit zwei Millionen fehlenden Fachkräften bis zum Jahr 2020. Das Prognos-Institut veranschlagt bis zum Jahr 2030 eine sogenannte "Fachkräftelücke" von 5,2 Millionen Personen, davon 2,4 Millionen Akademiker und 600.000 Geringqualifizierte. Schon jetzt gibt es Firmen, die weit unter ihrer Auslastung produzieren, weil ihnen die nötigen Mitarbeiter fehlen. Neben der neu gestarteten Rückholaktion von Auslandsdeutschen versucht Deutschland nun gezielt, ausländische Studenten in Deutschland zu halten und Menschen aus Drittstaaten ins Land zu holen. Ähnliche Strategien verfolgt auch Österreich, wo der Fachkräftemangel mit einigen Jahren Verzögerung durchschlagen wird.