Seit mehr als drei Jahrzehnten fühlen sich die italienischsprechenden Südtiroler als die neue Minderheit in Südtirol.
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Die erste Begegnung mit der Politik machte ich als Schulbub. Eines Morgens standen wir Kinder erschüttert vor unserer vollkommen verkohlten Baumhütte. Kollateralschaden eines Sprengstoffanschlages auf einen Stromverteiler mitten in Bozen. Die bis heute in Österreich verniedlichend "Bumser" genannten Südtiroler protestierten in den 1960er Jahren gegen Rom. Denn nach 22 Jahren Mussolini-Unterdrückung und der Umsiedlung eines Drittels der Bevölkerung (Hitler-Mussolini-Pakt) setzten auch nach 1945 die Regierungen in Rom auf Zentralismus, schleichende Italianisierung und Beibehaltung der Privilegien für die angesiedelten Italiener. Bruno Kreisky brachte die Südtirol-Krise vor die UNO und 1972 wurde mit Hilfe Österreichs ein neues Autonomiestatut vereinbart. Durch Einführung eines "ethnischen Proporzes" bei der Vergabe von öffentlichen Stellen und Sozialwohnungen, der teils verpflichtenden Zweisprachigkeit sowie großzügiger Kompetenzen der Landesverwaltung wurde eine weltweit mustergültige Autonomie für ethnische Minderheiten geschaffen, fast ein Staat im Staat. Die Wirtschaft des Landes blühte auf, das Zusammenleben entspannte sich.
Aber: Die Erfolgssektoren waren so gut wie ausschließlich "in deutscher Hand" - Landwirtschaft, Tourismus, mittelständische Betriebe. Auch profitierten die Deutschsprachigen davon, dass sie nach fünf Jahrzehnten Zugang zu öffentlichen Stellen und Sozialwohnungen erhielten. Spiegelverkehrt für "die Italiener". Die von Benito Mussolini angesiedelte Metallindustrie (Panzer, Lkw, Stahl) geriet - wie in ganz Europa - in eine schwere Krise mit endgültigem Niedergang. Aus ihren bisherigen Traditionsberufen (öffentliche Verwaltung, Straßenbau, Post, Gesundheit etc.) wurden sie teils verdrängt.
Fazit: Seit mehr als drei Jahrzehnten fühlen sich die italienischsprechenden Südtiroler als die neue Minderheit in Südtirol. Symbolische Aktionen zur Wiederherstellung der "deutschen Identität" des Landes, wie der Streit um die Abschaffung der Zweisprachigkeit für Berg-, Flur- und Wanderwege durch Eliminierung der italienischen Namen oder eben der Doppelpass nur für Deutsche und Ladiner wecken den alten Nationalismus. Die in zweiter und dritter Generation in Südtirol geborenen Bürger italienischer Muttersprache empfinden das zu Recht als Demütigung und Verunsicherung. Das mühsam erreichte friedliche Zusammenleben der Volksgruppen wird gefährdet. Als Südtiroler mit zwei aus dem italienischen, ehemals habsburgischen Trentino stammenden Großmüttern bin ich stolz auf meine Doppel-Kultur. Selbsternannten Südtirol-Freunden, wie dem in der vergangenen Wochenendausgabe der "Wiener Zeitung" so ausführlich zu Wort gekommenen Reinhard Olt, geht es gar nicht um das bessere Zusammenleben in Südtirol.
Sie möchten 100 Jahre nach der großen Nationalismus-Katastrophe Erster Weltkrieg den "(Un-)Friedensvertrag" (Zitat Olt) von St. Germain revidieren und alle ehemaligen Bürger der Monarchie deutscher Zunge vom Gardasee bis nach Tarvis zumindest auf dem Papier wieder zu Österreichern, eigentlich aber zu "Teitschen" machen. Durch Austro-Arier-Nachweis etwa?