Die Internet-User müssen erwachsen und somit misstrauischer werden.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": Sie warnen in Ihrem jüngsten Buch "Big Data" vor den Gefahren einer digitalen Rasterfahndung. Wie groß ist die Gefahr und was kann der einzelne User und Konsument tun?Viktor Mayer-Schönberger: Entscheidend ist, dass wir Konsumenten überhaupt wissen, dass wir, wenn wir Google oder Facebook benutzen, Konsumenten sind und dass wir ständig Daten emittieren. Das führt dazu, dass sich das Konsumverhalten - vor allem der mündigen Konsumenten - verändert. Der Erfolg der Anwendung "Snapchat", die dafür sorgt, dass von einem Handy zum anderen gesendete Bilder sich nach dem Betrachten selbst zerstören, ist für mich ein gutes Beispiel. 100 Millionen Anwender nutzen diese App bereits.
In Ihrem 2010 erschienenen Buch "Delete" haben Sie diese Entwicklung - nämlich, dass die Menschen ein Recht auf Vergessen und Vergessenwerden wollen - vorhergesagt.
Manche unserer Kommunikationsmittel sind ephemer, also flüchtig, andere sind permanent. Briefe sind permanent. Ein Gespräch ist ephemer. Aber eine Diskussion auf Facebook oder Twitter zwischen Menschen fühlt sich zwar an wie ein flüchtiges Gespräch, ist aber permanent. Die Konsequenz ist freilich nicht, dass wir uns nicht mehr mitteilen, sondern, dass wir uns mit anderen Werkzeugen mitteilen.
Big Data: Das heißt auch, aus abertausenden Datensätzen Korrelationen herauszuarbeiten und Informationen über User zu gewinnen.
Genau: Bei Facebook-Usern lässt sich aus den Freunden des Users etwas über die User selbst rückschließen. Das Entscheidende vom Big Data ist ja, eine bessere Entscheidungsbasis für unsere gegenwärtigen und zukünftigen Entscheidungen zu bekommen. Das ist grundsätzlich ja nicht schlecht. Denn viele Entscheidungen, die wir treffen, basieren auf Stereotypen, auf Ideologien, auf Glauben und weniger auf empirischem Wissen. Oder auf zu simplen Rückschlüssen.
Zum Beispiel?
Angenommen, Sie haben heute Durchfall und haben sich den Magen verdorben. Die Schuld schieben Sie dem Fischrestaurant zu, in dem Sie gestern gegessen haben, auch wenn eine Schmierinfektion oder simples Händeschütteln der viel wahrscheinlichere Grund für eine gastrointestinale Infektion sind. Mit viel zu schnellen Schlüssen versuchen wir, die Welt erklärbar zu machen, aber in Wirklichkeit lügen wir uns oft genug an. Da kann Big Data helfen, die Dinge richtigzustellen. Nicht, weil Big Data uns die richtigen Kausalketten aufzeigt - das kann Big Data nämlich genau nicht -, aber Big Data kann helfen, Fehler zu erkennen und zu vermeiden.
Algorithmen und Big Data liefern uns zielgerichtet Werbung oder führen uns auf Amazon zum nächsten Buch, das uns interessieren könnte. Trägt das nicht zur geistigen und intellektuellen Verarmung bei, wenn wir nur mehr Dinge lesen, von denen der Algorithmus aufgrund unserer bisherigen Lesegewohnheiten annimmt, dass sie uns gefallen könnten?
Ich hatte auch immer diese Bedenken. Mittlerweile erkennt der Algorithmus, dass da die Leser auch immer wieder überrascht werden, etwas Neues entdecken wollen. Also wird ein bestimmter Zufallsmechanismus eingebaut.
Was ist das Problem an Big Data?
Dass manche glauben, menschliches Verhalten und Handeln vorhersagen zu können. Ein Beispiel: Nehmen wir an, es gibt in Österreich ein siebenprozentiges Risiko für einen Terrorangriff. Eine solche Modellrechnung ist sinnvoll, damit ich erkenne, welche Ressourcen ich für eine bestimmte Herausforderung mobilisiere. Wenn ich aber nun beginne, dieses Modell herunterzubrechen, dann wird es schnell gefährlich. Denn nun sage ich, verhaften wir doch den Abdul Hassan, weil er in ein bestimmtes Gefährdungsraster passt. Big Data, das keine Aussagen über Kausalität ermöglicht, wird für kausale Zwecke missbraucht. Darin sehe ich die größte Gefahr.
Potenziell ist dann jeder schuldig?
Und zwar nicht dafür, was er getan hat, sondern dafür, was er vielleicht irgendwann tun wird. Das Gefährliche dabei: Damit wird die Unschuldsvermutung auf den Kopf gestellt: Du bist schuldig und kannst Deine Unschuld gar nicht mehr beweisen. Denn, wenn der Verdächtige verhaftet wird, bevor er - sagen wir - einen Mord begeht, dann kann er ja gar nicht beweisen, dass er den Mord gar nicht begangen hätte. Die Ermittlungsbehörden haben somit eine hundertprozentige Trefferquote. Aber die Regierungen sind in einem Dilemma: Die Bürger wollen nicht nur eine Freiheit des Denkens und des Handelns, sondern sie erwarten auch Sicherheit.
Big Data ist also der Realität gewordene Big Brother, den George Orwell in seinem Roman "1984" beschrieben hat?
Man muss aufpassen, da nicht paranoid zu werden. Und da ist eben die Sorge vor dem, was im Steven-Spielberg-Film "Minority Report" mit Tom Cruise aus dem Jahr 2002 beschrieben wird, viel größer. In dem Film geht es um einen Polizisten, der bei einer "Precrime"-Einheit arbeitet und Kriminelle verhaftet, bevor sie etwas anstellen. Einerseits liegen die Vorteile von Big Data für die staatliche Verwaltung oder die Wirtschaft klar auf der Hand. Die Nachteile liegen in der Diktatur der Daten, also Daten mehr Bedeutung zu geben, als ihnen zukommt. Da werden dann Ursachen und Kausalitäten aus Daten herausgelesen, wo keine sind.
Haben Sie auch eine amüsante Big-Data-Anekdote in petto?
Da gibt es einige witzige Beispiele. Eine Big-Data-Analyse in den USA hat etwa ergeben, dass bei Autos mit der Farbe Orange die Wahrscheinlichkeit, dass sie Reparaturen benötigen, am geringsten ist.
Wirklich?
Kein Witz. Schon beginnt es, in unseren Köpfen zu arbeiten: Werden orange Autos in der Dunkelheit besser gesehen und sind deswegen in weniger Unfälle verwickelt? Oder vielleicht stehen sie in der Garage, weil Zweitwagen oft Orange lackiert sind? Zack, schon schnappt die Falle des vorschnellen Denkens zu: Denn diese Korrelation sagt überhaupt nichts. Wenn es nämlich tatsächlich so einfach wäre, dann müsste man ja nur sein Auto auf Orange umlackieren lassen und schon braucht man nicht mehr in die Werkstatt fahren.
Wie sehen Sie Big Data im Zusammenhang mit der Affäre rund um den Aufdecker Edward Snowden, der aufzeigt, in welchem Ausmaß der US-Geheimdienst NSA die Bürger außerhalb, aber offenbar auch innerhalb der USA elektronisch überwacht?
Den US-Diensten geht es wie Goethes Zauberlehrling. Eine Anekdote: Die amerikanische Standardisierungsbehörde National Institute of Standards and Technology (NIST) hat jahrelang eine bestimmte Verschlüsselungsmethode empfohlen. Nun hat sich herausgestellt, dass da ein Hintertürl für den US-Geheimdienst NSA eingebaut war. Das führt nun erstens dazu, dass die internationalen Banken, die diese Verschlüsselungsmethode für ihre vertraulichen Daten verwendet haben, auf einen anderen Verschlüsselungsalgorithmus umsteigen müssen, und zweiten ist der Ruf der US-Standardisierungsbehörde schwer ramponiert. Damit haben die US-Dienste den amerikanischen Interessen geschadet: Internationale Banken werden auf nicht-amerikanische Technologie umsteigen. In Zukunft wird vielleicht ein chinesischer oder schwedischer Standard eingesetzt, den US-Unternehmen dann teuer lizenzieren müssen.
Social Media scheint für Geheimdienste besonders interessant...
...und zwar deswegen, weil es nicht nur darum geht, was jemand sagt, sondern vor allem, wem er es mitteilt. Wenn man die Verbindungen im Netzwerk eines Menschen durchleuchtet, dann sieht man sehr rasch, wer mit wem wie stark verbunden ist. Theoretisch können Sie die soziale Netz-Topologie einer gesamten Gesellschaft abbilden. Informationen lassen sich rasch und leicht herausfiltern. Unsere Gesellschaft hat bestimmte Regeln, bestimmte Gesetze. Manche werden streng durchgesetzt, andere weniger. Plötzlich habe ich die Möglichkeit, anhand des Stromverbrauchs herauszufiltern, wer in seinem Keller Marihuana anbaut. Am Ende wird dann mit Kanonen auf Spatzen geschossen.
Viktor Mayer-Schönberger ist Professor für Internet Governance and Regulation am Oxford Internet Institute. Der gebürtige Pinzgauer studierte Jus in Salzburg, Cambridge und Harvard. 1986 gründete er die Firma Ikarus, die mit einer Anti-Viren-Software Österreichs meistverkauftes Softwareprodukt erstellte. Mayer-Schönberger verkaufte Jahre später seine Firma und widmete sich der akademischen Karriere, berät zudem Unternehmen, Regierungen und internationale Organisationen.