Zwei hochrangige politische Vertreter der Krimtataren stehen auf der von Russland annektierten Halbinsel vor Gericht. In absurden Verfahren versuchen die russischen Behörden, an den Regimegegnern ein Exempel zu statuieren.
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Simferopol. Seit fast einem Jahr ist Achtem Tschijgos nur noch eine Stimme. Zumindest für die Außenwelt. Abgeklärt, aber leise und entrückt. Wie auf einer Tonaufnahme aus einer anderen Zeit. "Den größten Teil meines Lebens habe ich schon hinter mir", sagt er. "Ich fürchte mich nicht mehr vor dem Tod."
Seit 20. Juli 2016 darf Tschijgos die U-Haftanstalt nicht verlassen, vor Gericht ist er nur über einen Videoanruf zugeschaltet. Filme und Fotos aus dem Gerichtssaal sind verboten, es gibt nur Audio-Mitschnitte vom Prozess. So wie diesen hier: "Ich werde ich meine Hände nicht in den Schoß legen", sagt er. "Solange mir Allah die Kraft gibt, werde ich gegen dieses Unrecht kämpfen."
Dem 52-jährigen Krimtataren wird seit mehr als zwei Jahren auf der Halbinsel Krim von den Behörden der Prozess gemacht. Die Anklage lautet auf "Aufruf zu Massenunruhen", Artikel 212 des Russischen Strafgesetzbuches. Vor mehr als drei Jahren, am 26. Februar 2014, standen sich bei einer Demonstration in Simferopol 13.000 Menschen gegenüber. Bei Zusammenstößen sind zwei Menschen gestorben.
Tschijgos ist stellvertretender Leiter des Medschlis, dem politischen Organ der Krimtataren. Bis zu seiner Festnahme leitete er die krimtatarische Regionalverwaltung von Bachtschyssaraj, dem historischen Zentrum der Volksgruppe auf der Halbinsel. Nachdem viele seiner Mitstreiter nach der russischen Machtübernahme mit einem Einreiseverbot belegt wurden, ist Tschijgos der einflussreichste Politiker der Krimtataren auf der Krim.
So ist es der politisch hochrangigste Prozess gegen einen Krimtataren. Das steht in einem seltsamen Kontrast zur Aufmerksamkeit, die er erhält. In russischen Medien wird nicht darüber berichtet, auch internationale Berichte gibt es kaum. Wären da nicht die vielen Livestreams, die seine Anhänger nach jedem Verhandlungstag in die sozialen Medien stellen. Im Hintergrund rauscht der Straßenverkehr von Simferopol, vorne wogen grüne Baumkronen. Vor der Handy-Kamera haben sich einige Krimtataren aufgestellt, in einem Halbkreis um den Anwalt Nikolaj Polosow, der den Prozesstag schildert.
Der 36-jährige Anwalt, der schon Pussy Riot vertreten hat, verteidigt Tschijgos vor Gericht. Hunderte Zeugen wurden befragt, dutzende Stunden Videomaterial abgespult. Doch jetzt neigt sich der Prozess dem Ende zu. Er hat viele Absurditäten zu Tage gefördert - so viele, dass "die Richter oft damit kämpfen, die Fasson zu wahren", schreibt "Foreign Policy" in einer der wenigen Gerichtsreportagen. Polosow zählt auf: Dokumente der Behörden, die rückdatiert wurden. Zeugen der Anklage, die gar nicht vor Ort gewesen sein können. Von 200 Zeugen will nur einer gesehen haben, wie Tschijgos zu Gewalt aufgerufen habe. Oder das Datum des Vorfalls selbst, der 26. Februar 2014: Immerhin fiel die Krim selbst nach russischer Auffassung damals noch unter ukrainische Jurisdiktion, die Annexion erfolgte erst am 18. März. "Tschijgos ist ukrainischer Staatsbürger und befand sich auf ukrainischem Territorium", sagt Polosow. "Was soll das Ganze also?"
Justizterror soll Krimtataren mundtot machen
Das Verfahren führt ins Herz der Ereignisse rund um die Krim: Die "Causa 26. Februar", jener Tag vor mehr als drei Jahren, als sich in Simferopol tausende Krimtataren und pro-russische Aktivisten im Zentrum der Hauptstadt der Krim gegenüberstanden. Wenige Tage nach dem Maidan, der Revolution in Kiew. Bei Zusammenstößen zwischen den beiden Gruppen sollen zwei Personen gestorben sein. Doch während weitere fünf Krimtataren in der Causa verfolgt werden, bleiben die Teilnehmer der pro-russischen Demonstration unbehelligt. Einer von ihnen, Sergej Aksjonow, ist heute sogar Premier der Halbinsel. Ein Umstand, der Amnesty International dazu bewogen hat, Tschijgoz als politischen Gefangenen einzustufen.
Der Anwalt Polosow hegt keine Zweifel mehr daran, dass es einen Schuldspruch geben wird. Immerhin stünde dahinter der Plan, die Krimtataren einzuschüchtern und mundtot zu machen, so der erklärte Gegner der Annexion. Fast wirkt es so, als wollten die russischen Behörden an Tschijgos ein Exempel statuieren: Ein neues Gesetz, das besonders gefährliche Rechtsbrecher vom Prozess ausschließt, wird zum ersten Mal überhaupt angewandt. Wochenlang wurde das Gesuch, dass sich Tschijgos von seiner sterbenden Mutter zu verabschieden könne, abgelehnt. Schließlich wurden ihm zehn Minuten gewährt. "Unsere Aufgabe ist es, die Fehler, die das Gericht macht, zu dokumentieren und publik zu machen", sagt Polosow. Er will das Urteil vor internationalen Gerichtshöfen anfechten. Das Urteil wird für Juli erwartet.
So waren es vor allem die Krimtataren, mit 300.000 zumindest 12 Prozent der Krim-Bewohner, die sich gegen die Annexion gestellt haben. Zu frisch sind die Erinnerungen an die Sowjetzeit, als Stalin die Krimtataren als Nazi-Kollaborateure nach Zentralasien deportieren ließ. Sie kehrten erst in den 1980er Jahren auf die Halbinsel zurück. Tatsächlich haben die neuen russischen Machthaber den Druck erhöht: Es gibt Razzien, Entführungen und Gerichtsverfahren. 20.000 Krimatataren sollen die Halbinsel seit 2014 verlassen haben.
Dabei ist der Druck auf den Medschlis, der sich offen gegen die Annexion stellte, am größten: Dessen bekannteste Vorsitzende, Mustafa Dschemiljew und Rufat Tschubarow, wurden mit Einreiseverboten belegt. Der Medschlis selbst wurde zuletzt als extremistische Organisation verboten. Gegen ein Dutzend seiner Mitglieder laufen Gerichtsverfahren.
Wie gegen Ilmi Umerow. Wieder haben sich die Menschen in einem Halbkreis aufgestellt, wieder läuft die Handy-Kamera. Mit versteinerter Miene lauscht Umerow, gedrungene Gesalt, trüber Blick, den Worten seines Anwaltes Mark Feigin. Im Hintergrund schiebt sich der Nachtmittagsverkehr durch Simferopol, die Sonne fällt durch die Baumkrone. "Das ist lächerlich!", schimpft Feigin, der die Umstehenden um fast zwei Köpfe überragt. "Die reinste Inszenierung!"
Gulag-Methoden wiezu Sowjetzeiten
Umerow ist der zweite prominente Fall der Krimtataren, der gerade verhandelt wird. Der Vorwurf: "öffentlicher Aufruf zu Handlungen, die territoriale Ganzheit der Russischen Föderation zu verletzen". Ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft. Umerow, zuletzt Vize-Vorsitz des Medschlis, gilt als jemand, der sich nie ein Blatt vor den Mund nahm. Er unterstützt die Energieblockade, als vor zwei Jahren Krimtataren am ukrainischen Festland die Strommasten sprengten. Vor einem Jahr hatte Umerow in einem Interview für den krimtatarischen Fernsehsender ATR gesagt, die Krim sei Teil der Ukraine. Auf Krimtatarisch. Wie sich beim Prozess herausgestellt hat, konnte die Frau, von der die Gerichtsexpertise stammt, gar kein Krimtatarisch.
Der 59-jährige Umerow leidet an Parkinson. Das Sprechen fällt ihm inzwischen schwer. Trotz seines Gesundheitszustandes wurde er im Sommer mehrere Wochen in eine Psychiatrie zwangseingeliefert. Ein Schritt, den Human Rights Watch als einen "schändlichen Versuch" bezeichnete, "ihn zum Schweigen zu bringen und seinen Ruf zu schädigen." Eine "banale Fortsetzung der sowjetischen Praxis" nannte es der Journalist und Menschenrechtsaktivist Alexej Podrabinek, der Umerow vor Gericht unterstützt. Zu Sowjetzeiten wurden Dissidenten oft als "Geisteskranke" eingestuft.
Für Feigin ist es ein Verfahren mit großer Signalwirkung. "Der Kreml will dafür sorgen, dass die Interessen der Krimtataren weder durch Organisationen noch durch Aktivisten geschützt werden", sagt er der "Wiener Zeitung". Die Anfragen an die russischen Krim-Behörden, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen, blieben bisher allesamt unbeantwortet.
Es gab schon einmal eine Zeit, als die Familie Umerow gegen den Staat kämpfze. Vor 30 Jahren, am 18. Mai 1987, trat Bekir Umerow, der Bruder des heute Angeklagten, in einen Hungerstreik, aus Protest gegen die Diskriminierung der Krimtataren durch die Sowjetbehörden. "Bekir, ich unterstütze deine Heldentat voll und ganz", schrieb ihm damals eine gewisse Alije Tschijgos in einer Nachricht. "Jeder, der ein Herz in der Brust hat, muss unsere Sache unterstützen." Es ist Tschijgos Mutter, die heute im Sterben liegt.
Heute, 26 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion, stehen die Mitglieder beider Familien vor Gericht.