Wenn Musikproduzenten zu Waffenmeistern werden und IT-Entwicklerinnen zu Nachschub-Expertinnen. Der Verteidigungskampf ist für die Bürgerinnen und Bürger des Landes eine gemeinsame Kraftanstrengung.
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Vlad Darwin heißt eigentlich Wladislaw Prichodko. Und eigentlich wollte Prichodko Diplomat werden, studierte an der Ukrainischen Diplomatischen Akademie, dem Institut für Internationale Beziehungen der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kiew.
Eigentlich.
Doch die Musik-Evolution ließ Wladislaw Prichodko zu Vlad Darwin mutieren, Prichodko machte sein Hobby, das Klavierspielen, Komponieren und Arrangieren, zum Beruf. Es lief gut für ihn: Auftritte bei "Factory of Stars" (die ukrainische Version von Starmania), Download-Rekorde, Power Rotation im Radio (wenn Songs oft im Radio gespielt werden) und Zusammenarbeit mit ukrainischen Musikstars wie Aljoscha.
Doch Russlands Angriffskrieg vom 24. Februar gab Vlad Darwins Leben eine neue Richtung: vom Musikbusiness ins Rüstungsgeschäft.
Nur, dass es nicht um Geschäfte geht, sondern um die Produktion und Lieferung von Armeeausrüstung für ukrainische Soldaten, finanziert aus eigenen Mitteln und Spendengeldern der Organisation "Ukraine Alive 2022".
Vlad führt über das Gelände einer Werkstätte irgendwo in Kiew. Keine Fotos von außen, keine genauen Angaben, wo sich dieser Ort befindet. So lauten die Bedingungen. Vlad hat Sorge, dass die Gebäude zu einem militärischen Ziel werden könnte, wenn die Aufklärungskräfte der Armee der Russischen Föderation herausfinden, wo "Ukraine Alive 2022" seine Werkstätten hat und was genau hier passiert.
Panzerplatten selbst getestet
Nach Betreten des Lagerraums ist klar, warum: Hier stapeln sich Splitterschutz- und beschusssichere Westen, taktische Plattenträger-Westen und die entsprechenden Panzerungsplatten. Eine schwere, dicke Metallplatte soll vor Schrapnell und Projektilen schützen, eine robuste Schaustoffpolsterung soll bei einem Impact die Energie des Projektils oder des Schrapnell-Splitters auf die gesamte Fläche verteilen und abpolstern.
Jene, die hier arbeiten, hatten bis vor dem Krieg keine Ahnung davon, welche Ausrüstungsgegenstände Soldaten überhaupt benötigen, und schon gar nicht, wo man solche Ausrüstungsgegenstände beschafft. Hipster wie Vlad wussten eher, wie man einen Latte Macchiato oder einen Cappuccino braut, vom Kriegshandwerk verstand er nichts. Aber nun ist Vlad stolz darauf, dass er und seine Kolleginnen und Kollegen bereits mehrere tausend solcher Westen an die Truppe ausgeliefert haben, dazu kommen noch Nahrungsmittel, Medikamente, Wasser und Nachschub-Artikel aller Art.
"Wir haben die Panzerplatten selbst getestet", sagt Vlad und zeigt ein einigermaßen mitgenommenes Exemplar vor. Der Chef persönlich habe die Platten mit einem Kalaschnikow-Sturmgewehr aus unterschiedlichen Entfernungen beschossen. Dann wurde die Testplatte begutachtet: Welche Deformationen haben die Projektile verursacht? Auf diese Weise hat man herausgefunden, wie dick die Panzerplatte sein soll und welche Metall-Legierung den besten Schutz bietet.
Eine NGO, die die Armee ausstattet? Vlad ist selbst überrascht darüber. Aber zugleich: "Wir warten nicht darauf, dass von irgendwo irgendwelche Befehle oder Aufträge kommen. Wir legen einfach los", erzählt er.
Und tatsächlich: Man hört überall in der Ukraine die Geschichten von denen, die taktische Ausrüstungsgegenstände online bestellt haben, im Elektronikladen alle vorrätigen Drohnen aufgekauft haben, und über Tech-Leute, die die Drohnenkameras dann gepimpt haben sollen. Auf Einkaufstouren in EU-Ländern wurden in Jagd- und Outdoorgeschäften Restlichtverstärker und Nachtsichtgeräte gekauft, Sanitätsmaterial, Schuhe, Helme, Uniformteile.
Strenge russische Hierarchie
Im Ukraine-Krieg treffen zwei Kulturen aufeinander: Auf der ukrainischen Seite eine höchst vernetzte Bürgerarmee mit horizontalen Hierarchien und einem hohen Durchlässigkeitsgrad zwischen den Befehlsebenen. Dort die russische Armee, in der auf dem Papier sogenannte taktische Bataillonsgruppen im Kampf der verbundenen Waffen operieren sollen, in der Praxis aber offenbar eine einigermaßen sowjetische Armeekultur mit strikten, streng vertikalen Hierarchien und strengen Befehlsketten zu herrschen scheint. Die eine Seite: agil, flink, wendig und spontan taktische Gelegenheiten nutzend. Die andere Seite: träge, unflexibel und wenig anpassungsfähig.
Und während in Russland alle Entscheidungen letztlich von einer kleinen Gruppe von Männern im Kreml getroffen werden, sind die Strukturen in der Ukraine viel regionaler und dezentraler, die Netzwerke sind viel enger geknüpft. Vor allem seit der Maidan-Revolution der Würde im Jahr 2014 hätten die meisten Ukrainer die Mentalität des Homo sowjeticus hinter sich gelassen, niemand würde auf einen Ukas des Präsidenten warten, sondern selbst initiativ werden, sagt Vlad Darwin: "Dieser Do-it-yourself-Spirit hat seit dem Beginn des Krieges einen weiteren Schub erfahren."
Spenden für Drohnen-Einheit
Die Drohnen-Einheit Aeroroswidka ist ein Beispiel dafür: Die Einheit besteht aus IT-Leuten, und Drohnen-Afficionados, sie bauen ihre Fluggeräte selbst oder verändern handelsübliche zivile Drohnen derart, dass sie als Kampfmaschinen eingesetzt werden können. Jüngst zirkulierten in ukrainischen Telegram-Kanälen Videos, die solche Drohnen dabei zeigten, wie sie Granaten auf russische Fahrzeuge abwarfen und diese vernichteten. In Nato-Armeen wird nun über verbesserte Abwehr von kleineren Drohnen diskutiert, denn die ferngesteuerten Fluggeräte werden als die Scharfschützen des 21. Jahrhunderts gesehen.
Aeroroswidka soll auch beim Stopp des kilometerlangen Konvois, der sich zu Beginn des Krieges Kiew entgegenwälzte, eine entscheidende Rolle gespielt haben. Der Kommandeur der Drohnen-Spezialeinheit, Leutnant Jaroslaw Honchar, berichtete gegenüber der britischen Tageszeitung "Guardian" davon, wie Aeroroswidka mit Wärmebildkameras und Restlichtverstärkern, ferngezündeten Minen und mit Granaten bewaffneten Drohnen Jagd auf den Konvoi gemacht haben. Mit einer Serie von Hinterhalten will Aeroroswidka auf diese Weise diesen Konvoi zum Stehen gebracht haben.
Bemerkenswert: Aeroroswidka ist auf Instagram, Facebook, Twitter, Youtube, Linkedin und Telegram zu finden und nimmt auf der Website Spenden entgegen.
Man muss sich das vorstellen: Das wäre so, als könnte man an die Bundesheer-Spezialeinheit Jagdkommando spenden.
Aeroroswidka kommt entgegen, dass sich Drohnenwettrennen in der Ukraine seit Jahren größter Beliebtheit erfreuen. Und der Drohnenkrieg wird sich in den kommenden Wochen intensivieren: Die USA schicken 100 Switchblade-Kamikaze-Killerdrohnen. Switchblades sind nichts anderes als ferngelenkte Bomben mit einer Reichweite von rund zehn Kilometern. Schon bisher hatte die ukrainische Luftwaffe türkische Bayraktar TB-2-Kampfdrohnen im Einsatz.
Toilettenartikel fehlen
Zurück in den Lagerräumen von "Ukraine Alive 2022" in Kiew zeigt Alina Sydorenko, wie gerade eine Ladung Hilfsgüter zum Transport vorbereitet wird. Medikamente, Konservendosen und Toilettenartikel sollen an eine Einheit ausgeliefert werden, für eine weitere Lieferung werden Babynahrung und Windeln vorbereitet. Von den mehr als 200 Freiwilligen seien rund 30 nur mit den Auslieferungen beschäftigt, Logistikzentren wie solche, durch das Alina und Vlad führen, gibt es in Kiew bereits mehr als zehn.
"In den umkämpften Gebieten gibt es Menschen, die alles verloren haben, die brauchen Kleidung, Decken, Polster, Schuhe, Medikamente und auch Essen - einfach alles. Wir versuchen, das ganze Sortiment zu liefern", sagt Alina. Alina war vor dem Krieg IT-Entwicklerin, jetzt ist sie Logistikerin bei "Ukraine Alive 2022". Auch in ihrer Arbeit spielt die Versorgung des Militärs eine wichtige Rolle.
"Unsere Soldaten brauchen Waffen, Munition, Uniformen, Westen. Wir schicken ihnen das alles - außer Waffen, darum kümmert sich das Verteidigungsministerium. Es gibt auch in den Regionen, in denen gekämpft wird, genug Essen, doch an Toilettenartikeln fehlt es", sagt Alina.
Logistik ist der Sauerstoff für das Muskelspiel des Militärs. Der Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine hat Musiker zu Waffenmeistern und IT-Entwicklerinnen zu Nachschub-Kräften mutieren lassen. Dem Militär der Ukraine hilft eine Do-it-yourself-Bürgerarmee.
Mitarbeit: Olya Danyukova