Angesichts der Midterm-Ergebnisse herrscht in New York wie in den anderen Metropolen Amerikas Fassungslosigkeit.
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New York/Washington. Zumindest auf New York ist Verlass. Es ist fünf Uhr morgens Ortszeit, und während draußen am Land noch immer ein Demokrat nach dem anderen sein Amt verliert, kennen die lokalen Ableger der großen Nachrichtensender nur ein Thema: Was es heißt, wenn daheim alles beim Alten bleibt, während rundherum alles zusammenzubrechen scheint. Chris Cuomo, der jüngere Bruder des soeben mit großer Mehrheit wiedergewählten Gouverneurs Andrew, leitet auf CNN eine prominente Diskussionsrunde von Frühaufstehern. Starjournalist Carl Bernstein meint, dass das alles nicht so schlimm sei mit der republikanischen Mehrheit im Senat, die wären bloß auf einer Welle des Anti-Obama-Populismus geschwommen. Und im Übrigen würde in zwei Jahren, wenn wieder Präsidentschaftswahlen anstehen, mit Hillary Clinton eine "echte Führungsfigur" antreten und dann sei Schluss mit dem Spuk von Stillstand und Reform-Verschleppung.
Seine durchwegs liberalen Mitdiskutanten - in New York kommen auf jeden konservativen Wähler zwei Demokraten - protestieren heftig. Tenor: Zwar sei das Abendland nicht in Gefahr, aber die Schlagkraft der Barbaren vor den Toren dürfe man keinesfalls unterschätzen. Und die auf der langjährigen New Yorker Senatorin und Ex-Außenministerin ruhenden Hoffnungen seien nicht nur deshalb verfrüht, weil sie sich noch gar nicht zur Kandidatur entschieden hat.
Am Tag nach dem großen Gemetzel herrscht eine aufgeräumte Stimmung in der größten Stadt des Landes, an der die Midterms ansonsten fast geräuschlos vorbeigehen. Während die Wähler im Großteil der USA durchwegs nach rechts marschierten - selbst in Bundesstaaten, die an und für sich als Bank der Demokratischen Partei gelten (Massachusetts, Maryland) -, wurden in New York nahezu ausnahmslos alle liberalen Politiker im Amt bestätigt. Dass die Reaktionen auf den politischen Erdrutsch westlich und südlich des Hudson in der Medien- und Geldhauptstadt Amerikas gefasst ausfielen, ist freilich allen voran der Arbeit der Zunft der Meinungsforscher zu verdanken. Nämliche prophezeite diesen Ausgang schon vor Wochen. (Die diesbezügliche Genauigkeit kann einem richtig Angst machen: Praktisch alle Voraussagen, die am Wochenende vor der Wahl über TV und Social Media verbreitet wurden, erwiesen sich als korrekt.) Am Ende kam es genau so, wie es den Umfragen zufolge kommen musste: Die Republikanische Partei wird in den letzten zwei Jahren der Amtszeit von Präsident Barack Obama die totale politische Kontrolle im US-Kongress haben.
Flucht in Galgenhumor
Wie groß mittlerweile in urbanen Ballungsräumen im ganzen Land das Unverständnis für jene ist, die für die Blockade in Washington hauptverantwortlich gemacht werden, zeigte sich noch am frühen Dienstagabend, als das vorläufige Endergebnis des Senatsrennens aus Kentucky bekannt wurde. Als Mitch McConnell - als bisheriger Minderheits-Sprecher maßgeblich verantwortlich für die Umsetzung der "Hell, no"-Strategie, die sich am ehesten mit "Kein Fußbreit den Demokraten" übersetzen lässt - schon kurz nach Schließung der Wahllokale zum Sieger erklärt wird, ergießt sich über die öffentlichen Diskussionsforen der New Yorker Lokalmedien ein Schwall der Fassungslosigkeit. Der Comedian Andy Borowitz, Kolumnist des liberalen Wochenmagazins "New Yorker", bringt auf den Punkt, was sich an diesem Abend nicht nur die meisten Bewohner des Big Apple denken: "Ich will jetzt nicht die Erwartungshaltung der vielen zornigen Wähler da draußen enttäuschen, aber: Auch wenn die Republikaner die Mehrheit im Senat bekommen, wird der Präsident immer noch schwarz sein." Galgenhumor vom feinsten, gepaart mit Achselzucken.
Im Laufe der Wahlnacht 2014 wird vor allem eines immer klarer: wie weit sich heutzutage nicht nur New York, sondern auch sämtliche anderen Metropolen des Landes mittlerweile von dem entfernt haben, was sich in den Kleinstädten Amerikas und am Land abspielt. Da wird in Iowa, das die vergangenen 30 Jahre lang mit Tom Harkin einen ausgesprochen liberalen Senator stellte, eine gänzlich schmerzbefreite Politikerin namens Joni Ernst gewählt. Die nannte Obama einen "Diktator", verdächtigt die UNO einer Verschwörung gegen Amerika und brüstet sich vor allem anderen damit zu wissen, wie man Schweine kastriert. Da wird in South Carolina mit Tim Scott der erste Schwarze seit dem Bürgerkrieg gewählt, mit dem ausgesprochenen Segen der Tea Party: weil er mit dem Kampf für die Bürgerrechte von Minderheiten ungefähr so viel zu tun hat wie der Klu-Klux-Klan. Und so weiter und so fort.
Provinzialisierung Amerikas
Gegen Mitternacht ist klar, dass die Midterms 2014 zu einem Triumph der Provinz geworden sind. Im öffentlich-rechtlichen Lokalradio erklingt die Stimme von Chris Christie, dem Gouverneur des New York benachbarten Bundesstaats New Jersey. Ein "eindrucksvoller Sieg" sei da seiner Partei gelungen, sagt der mögliche Präsidentschaftskandidat für 2016, und jetzt mache man sich daran, "eine Menge Dinge zu korrigieren, die in den letzten sechs Jahren falsch gelaufen sind". Die Provinzialisierung Amerikas: Sie ist seit den jüngsten Midterms keine Drohung mehr, sondern ein Versprechen.