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Der heutige Spaziergang führt an die Mühlenstraße im Ostberliner Bezirk Friedrichshain. Hier ist die ehemalige DDR-Grenzmauer auf einer Länge von 1.316 Metern in ursprünglicher Höhe erhalten. Kurz
vor dem zehnten Jahrestag der Maueröffnung am 9. November fahren täglich zahlreiche Reisebusse hierher, ausländische Besucher fotografieren oder lassen sich vor der "Mauer" ablichten. Und das aus
gutem Grund, denn hier steht die längste Freilichtgalerie der Welt, die "East Side Gallery". Vor neun Jahren kamen 118 Künstler aus 21 Ländern und malten, Leiter an Leiter stehend, auf 1.018 Meter
Mauersegmente spontan und kunterbunt 118 farbige Bilder aus der bewegten Wendezeit. So entstanden, um nur einige bekannte zu nennen, der "Trabi", das Kultauto der DDR, das die Mauer durchbricht, der
"Bruderkuss" zwischen Breschnew und Honecker, das "Vaterland" mit dem Davidstern in der Deutschland-Flagge oder die indischen "Sieben Stufen der Erleuchtung". Am 28. September 1990 wurde das
inzwischen weltberühmte Wendekunstwerk "East Side Gallery" eingeweiht und 1991 unter Denkmalschutz gestellt. Danach wurde im Berliner Senat viel geredet: Ein Sanierungsbeschluss wurde so gefasst,
eine Studie in Auftrag gegeben, ein Streit über gläserne Überdachung oder hölzerne Verschalung entfacht oder ob "Einhausung" sinnvoll wäre. Berliner CDU und SPD versprachen hoch und heilig den Erhalt
der Mauerkunstwerke. Das Bundesmaterialamt wollte eine Neumalung der Bilder "direkt auf den Beton" als dauerhafte Lösung.
Aber nur zwei Gemälde wurden im Laufe der Jahre restauriert. 1997 gründeten einige Künstler einen Selbsthilfeverein und begannen, auf eigene Kosten, ihre Gemälde provisorisch zu erneuern. Aber sie
wissen, sie können die Galerie nicht retten.
Die Eisenarmierung im Innern der Segmente rostet, der Mauerbeton ist porös. Ohne Spritzschutz landen Regenwasser und Winterlaugen von vorbei fahrenden Autos an den Mauergemälden. Grafitti-Sprüher
überdeckten die Bilder mit neuen "Kreationen". "Mauerspechte" hackten auf der Rückseite Löcher in den Beton. Antisemitische Schmierereien und Vandalismus verwandelten die Attraktion in ein Bild des
Jammers. Vom "Bruderkuss" platzt die Farbe ab. Das "Trabi"-Bild, mit Kugellagerfett beschmiert, ist kaum noch zu erkennen. Manche Gemälde können die Touristen nur noch erahnen. Lediglich 73 Bilder
schätzt man als noch restaurierbar, aber nur 15 können tatsächlich noch erhalten werden · weil für mehr angeblich das Geld nicht reicht. Fachleute im Denkmalschutz bewerten den Umgang mit diesem
einmaligen Zeugnis der Wendezeit als Skandal.
Dieser Tage haben die Künstler-Initiative "East-Side" und "Schnittstelle Berlin" neue Aktivitäten zur Rettung der Malergalerie gestartet. In einer Ausstellung wird der Verfall durch Gegenüberstellung
der Gemälde 1990 und heute dokumentiert. Private Geldgeber sollen gefunden werden. Benefiz-Veranstaltungen finden statt. Der Verkauf wertvoller Mauerstücke soll Geld in die Kassen bringen. Werke von
Mauerkünstlern werden ausgestellt. Architektur-Studentinnen entwarfen in ihrer Diplomarbeit ein ganzes Mauermuseum für die "East Side Gallery" mit Mauerarchiv, Ateliers und Tagungsräumen. Aber Geld
von offizieller Seite ist nicht in Sicht. Die Senatsverwaltung sieht das Bauwerk als "nicht existenziell gefährdet". Und wie verlautet, steht der Mauerkilometer künftigen Stadtvillen, einem
"Spreegarten" und einer Dampferanlegestelle im Wege.