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"Die Ebene unterhalb der Politik hat die EU-Integration wirklich gut geschafft"

Von Heike Hausensteiner

Politik

Österreichs scheidende EuGH-Richterin Maria Berger zieht Bilanz.


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© Heike Hausensteiner

"Wiener Zeitung":Seit kurzem ist die Datenschutzgrundverordnung in Kraft. Stimmt der Vorwurf, Österreich unterlaufe den Datenschutz der Konsumenten, um die Unternehmen zu schonen?

Maria Berger: Ich glaube schon, dass auch die Verordnung für Mahnungen Raum lässt und nicht gleich mit voller Härte bestraft werden muss. Was wir als Gerichtshof immer verlangen, sind abschreckende, wirksame, aber auch verhältnismäßige Strafen. Strengere Sanktionen sind immer zweischneidig: Natürlich wirken sie abschreckend. Aber gerade kleinere Unternehmen, Restaurants oder Vereine, die eine Kundendatei führen, tun sich leichter, wenn nicht gleich mit voller Härte gestraft wird. Die Konsumenten haben jetzt auch selbst mehr Instrumente in die Hand bekommen, sie können sich etwa an die nationale Datenschutzkommission wenden und müssen nicht im Ausland klagen. Schade ist aber, dass in Österreich Sammelklagen nicht zugelassen werden.

Sie rechnen nicht damit, dass die österreichische Umsetzung vor dem EuGH landet?

Das kann man nie ausschließen. In diesem Fall wäre es Sache der Kommission, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich einzuleiten. Um das einschätzen zu können, wird sie wahrscheinlich die Regelung eine Zeit lang beobachten. Ziel ist ja, dass sich alle daran halten - und nicht, möglichst hohe Bußgelder einzunehmen; das ist ja keine Geldbeschaffungsmaßnahme.

Ab 2019 möchte Österreich die Familienbeihilfe für Ausländer indexieren und an die Lebenshaltungskosten im jeweiligen Land anpassen, also auch kürzen. Ist das ein Fall für den EuGH?

Wahrscheinlich. Ich werde da nicht mehr dabei sein und kann mich daher dazu äußern. Es gibt hier ja schon Aussagen vom EuGH-Präsidenten dahingehend, dass ein Widerspruch zu unserer bisherigen Rechtsprechung besteht. Die EU-Bestimmungen in der entsprechenden Sozialversicherungskoordinierungsverordnung sind da sehr explizit, es gilt auch der Gleichbehandlungsgrundsatz. Der erste Arbeitnehmer in Österreich, der eine geringere Familienbeihilfe bekommt, weil seine Kinder nicht bei ihm leben, kann zu Gericht gehen. Und das wird dann sehr schnell bei uns sein (durch ein Vorabentscheidungsersuchen, Anm.). Ein Ausweg aus der direkten Ungleichbehandlung wäre, dass man auch in Österreich eine Indexierung einführt. Die Lebenshaltungskosten sind auch zwischen Burgenland und Vorarlberg unterschiedlich; Vorarlberger könnten sich diskriminiert fühlen, weil sie nur so viel Familienbeihilfe bekommen wie für Kinder, die im billigeren Burgenland zu Hause sind. Selbst dann bliebe es aber vermutlich eine indirekte Diskriminierung, weil die Anknüpfung an den Wohnort EU-Ausländer stärker trifft als Inländer.

Sollte die Regelung tatsächlich vor den EuGH kommen: Wie schnell ist mit einer Entscheidung zu rechnen?

Wahrscheinlich würde die Frage im Vorabentscheidungsverfahren bei uns landen. Da haben wir jetzt eine durchschnittliche Verfahrensdauer von 15 Monaten, im Gegensatz zu 26 Monaten, die es früher gedauert hat.

Warum entscheidet der EuGH grundsätzlich, wie er entscheidet?

Wir entscheiden auf der Grundlage des vom europäischen Gesetzgeber beschlossenen Rechts. Laut der Sozialversicherungskoordinierungsverordnung gebühren eben für gleiche Beiträge gleiche Leistungen - unabhängig vom Wohnort. Und Familienbeihilfe ist keine Sozialhilfe, sondern ähnlich einer Versicherungsleistung.

Der EuGH springt ein und regelt letztlich, was die Politik verabsäumt hat. Stimmt der Eindruck?

Ja, das kommt vor. Ich kenne den Gesetzgebungsprozess sowohl als Ministerin im EU-Rat als auch als Europa-Parlamentarierin. Oft können wirklich nur mit Formelkompromissen die notwendigen Mehrheiten gefunden werden. Da ist meist eingepreist, dass letztlich der EuGH entscheiden wird, wie eine vieldeutige Formulierung zu verstehen ist. Und das ist auf europäischer Ebene sicherlich öfter der Fall als auf nationaler Ebene.

Sie sind die einzige Österreicherin, die im EU-Parlament, als Ministerin im EU-Rat und am EuGH vertreten war, bzw. ist. Wie schlägt sich Österreich auf EU-Ebene?

Österreich hat es verabsäumt, sich in eine beständige Allianz einzubringen. In der Vorbeitrittsphase und kurz nach dem EU-Beitritt haben wir aus Tradition mit den früheren Efta-Staaten Schweden und Finnland kooperiert. Das hat dazu geführt, dass das Thema Beschäftigungspolitik ein europäisches wurde. Das ist aber verloren gegangen. Wir standen dann zwischen Ost und West. Wir hätten uns vor der großen Erweiterungsrunde 2004 in den mittel- und osteuropäischen Ländern mehr engagieren können. Wir haben aber vieles den Briten überlassen, die zum Beispiel ihre Rechtskultur nach Ungarn oder Polen exportiert haben.

Warum?

Offenbar hat das Österreich als nicht so wichtig eingeschätzt oder man wollte sparen. Insofern sind wir zwischen allen Sesseln angekommen, wir haben uns in keiner beständigen Allianz eingefunden - das muss aber auch nicht unbedingt sein. Aber dann müsste man selbst umso aktiver sein und sich profilieren, was leider so nicht der Fall war.

Sehen Sie Österreich 2018 eher in Macron-Nähe mit republikanischer Stoßrichtung für die EU oder eher in Orbán-Nähe mit großem Stellenwert der Subsidiarität?

Ich fürchte, dass wir nicht Macron nahe stehen. Österreich würde ich aber auch nicht in die Nähe von Orbáns Ungarn rücken. Da gibt es zum Glück schon noch große Unterschiede - aber eben auch keine explizit europafreundliche Haltung, wie jetzt zu Beginn der Verhandlungen um den neuen EU-Finanzrahmen zu sehen ist. Ich kann nicht als Regierung immer mehr von der EU wie etwa die Grenzschutzsicherung verlangen, aber nicht mehr Mittel zum Gemeinschaftsbudget beitragen wollen. Kann dann die EU ihre Aufgaben nicht erfüllen, kann man dann wieder leicht die EU kritisieren. Genauso kann ich nicht die Integrationsmaßnahmen kürzen und dann auf "die bösen nicht integrierten Ausländer" schimpfen. Ich hoffe nicht, dass da System dahinter ist.

Wird angesichts der Ratspräsidentschaft ab Juli mehr EU-Engagement von Österreich zu hören sein?

Beim Ratsvorsitz ist zu tun, was ohnehin auf der Tagesordnung steht, dafür muss man aber bestmöglich vorbereitet sein. Die Zeit davor und danach wäre wichtig. Nur: Die Themen, mit denen Österreich in der EU auffällt, sind oft sehr punktuelle. Etwa die Klage gegen die Subventionierung des britischen AKWs Hinkley Point, oder wenn es um Gentechnik geht, das bleibt von Österreich hängen. Grundsätzlichere europäische Initiativen lässt Österreich vermissen. Andere Aspekts sind die Umsetzungsfreudigkeit und Offenheit gegenüber europäischen Regelungen - da sehe ich Österreich eher im besseren Drittel. Die österreichischen Gerichte zählen zu den vorlagefreudigsten. Im Vergleich zur Bevölkerung haben wir die meisten Vorabentscheidungsverfahren zu Fällen aus Belgien, Luxemburg und Österreich. Das heißt, die österreichische Rechtsordnung, die Ebene unterhalb der Politik, hat die europäische Integration wirklich gut geschafft, und die österreichischen Richterinnen und Richter kennen sich mit dem Unionsrecht gut aus. Das kann man selbst von einigen alten Mitgliedsstaaten nicht sagen.

Sie haben bereits eine designierte Nachfolgerin am EuGH. Es gab Kritik am Bestellmodus, speziell von der SPÖ - können Sie das nachvollziehen?

Der war in meinem Fall auch schon nicht anders, nämlich dass es eine Ausschreibung gibt, aber kein Hearing des von der Regierung vorgeschlagenen Kandidaten im Parlament. Das wurde auch bei mir von der damaligen Opposition kritisiert. Bei Richtern halte ich eine parlamentarische Anhörung auch nur für beschränkt sinnvoll. Sie dürfen ja nicht verraten, wie sie sich in einem konkreten Fall zu positionieren gedenken. Das würde die richterliche Unabhängigkeit gefährden. Wenn man das jetzige Auswahlverfahren nicht gut findet, muss man sich rechtzeitig darum kümmern, dass es geändert wird.

Maria Berger (Jahrgang 1956) war u. a. Direktorin der Efta-Überwachungsbehörde in Genf und Brüssel, EU-Parlamentarierin und Justizministerin (2007-2008) der SPÖ. 2009 wurde sie zu Österreichs Richterin am EuGH in Luxemburg bestellt.