Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es wird auch diesmal nichts werden, aber Ron Paul scheint das egal zu sein - und seinen Geldgebern und Unterstützern auch. Zum dritten Mal kämpft der republikanische Abgeordnete, der im US-Repräsentantenhaus den 14. Wahlbezirk von Texas vertritt, um die Nominierung seiner Partei zum Präsidentschaftskandidaten - und trotz gegenteiliger Beteuerungen weiß er im Grunde ganz genau, dass er auch diesmal keine Chance hat.
Dass der 75-Jährige trotzdem ungerührt weiter wahlkämpft, wundert zwar niemanden mehr wirklich, ärgert aber mittlerweile seine Gegenkandidaten und seine Partei so sehr, dass sie alles versuchen, ihn aus den Schlagzeilen herauszuhalten, indem sie ihn schlicht totschweigen. Wenn nichts Unvorhergesehenes mehr passiert, wird das Rennen zwischen Rick Perry, dem Gouverneur von Texas, Mitt Romney, dem Ex-Gouverneur von Massachusetts, und der katholischen Fundamentalistin Michelle Bachmann aus Minnesota entschieden.
Frauen- und Kinderarzt
So lautet das Urteil der maßgeblichen Stimmen in der Partei, und der "gute alte Onkel Ron sollte bitte langsam den Mund halten, wenn er keinen weiteren Schaden anrichten will", wie ein anonym bleibend wollender Grande der Republikaner kürzlich der "Washington Times" erklärte. Den Frauen- und Kinderarzt ficht das freilich nicht an; ging es ihm doch auch bei seinen bisherigen Anläufen nie um seine Person, sondern um seine Positionen, die er seit mittlerweile knapp drei Jahrzehnten unermüdlich propagiert und die sich zu keiner Zeit geändert haben: innenpolitisch nur so viel Staat wie unbedingt nötig, dafür so viel Freiheit wie möglich für Bürger und Märkte; außenpolitisch Schluss mit jeglicher Wirtschafts- und Entwicklungshilfe für andere Länder, dafür aber auch Schluss mit militärischen Interventionen. So einfach ist das.
Obwohl seine Chancen, im kommenden Jahr gegen Barack Obama anzutreten, schlecht stehen - laut einschlägigen Umfragen liegt er derzeit zwar vor Bachmann, aber deutlich hinter Romney und Perry -, will der fünffache Familienvater den Kampf solange nicht aufgeben, bis ihm das Geld ausgeht. Dieser Fall dürfte sobald nicht eintreten, denn seit rund drei Jahren gilt Ron Paul nicht mehr als vom Establishment der Partei mehr er- als geduldeter Außenseiter, sondern als geistiger Pate jener Bewegung, welche die Politik der Republikaner heute maßgeblich mitbestimmt: der sogenannten Tea Party. "Der Slogan des Wahlkampfs jedes Kandidaten sollte heute sein: Ron Paul hatte Recht", sagte sein Sohn Rand, der Senator von Kentucky, kürzlich im Rahmen einer Wahlkampfveranstaltung. Selbst die Gegner seines Vaters wagten nicht, zu widersprechen.
Tatsächlich hatte Paul als einer der ersten Politiker der USA - noch unter der Präsidentschaft von George W. Bush - lautstark vor den Auswirkungen des gigantischen Schuldenbergs gewarnt, für den das Land irgendwann die Rechnung präsentiert bekommen werde. Seinerzeit als einsamer Rufer in der Wüste abgetan, änderte sich die Rezeption seiner Botschaft zuerst mit dem Ausbruch der Finanzkrise und den damit einhergehenden Rettungsprogrammen - und dann mit dem Amtsantritt Barack Obamas 2008.
Angesichts eines demokratischen und noch dazu schwarzen Präsidenten und eines von seiner Partei dominierten Kongresses schienen sowohl die frustrierten Konservativen wie die liberalen Geister innerhalb der Grand Old Party mit einem Schlag zu ihren Wurzeln zurückzufinden - allen voran zum Ruf nach fiskalischer Disziplin -, und Leute wie Ron Paul und sein politisch gleich gepolter Sohn rückten samt ihren bis dahin als radikal verschrie-enen Positionen vom Rand des politischen Spektrums in seine Mitte. Nachdem sich auch viele Wähler von der Tatsache, dass das Gros der heutigen Schulden der USA unter republikanischen Regierungen angehäuft wurde, nicht weiter beirren ließen, wählten sie die Vertreter der neuen Bewegung 2010 in namhafter Zahl in die beiden Häuser des Kongresses.
Wie groß der Einfluss des Tea-Party-Phänomens auf das innenpolitische Getriebe von Washington D.C. mittlerweile ist, ließ sich am kürzlich beendeten Streit messen: Jene Abgeordneten, die sich der Bewegung zugehörig fühlen, stimmten in der Mehrheit gegen den Kompromiss zwischen moderaten Demokraten und Republikanern zur Anhebung des Schuldenlimits der USA. Dass sie damit zur Herabstufung der Kreditwürdigkeit ihres Landes beitrugen, war ihnen egal: Es ging ums Prinzip (und ihre Chancen auf eine erfolgreiche Wiederwahl).
Und hier wird es kompliziert, denn die Familie Paul - die ebenfalls gegen den Kompromiss stimmte - hat mit dem christlichen Fundamentalismus á la Bachmann oder der oberflächlichen Dumpfheit einer Sarah Palin, die sich derzeit in ihrer Rolle als Zaungast des politischen Geschehens gefällt, wenig am Hut. Und genau das ist es, was sie in Zeiten, in denen sich der Kongress und das Weiße Haus gegenseitig blockieren, für so viele Amerikaner wie noch nie zuvor attraktiv macht, repräsentieren sie doch in ihren Augen die Rückkehr zu Werten, die sie als identitätstiftend empfinden, zu einer Kultur, die sie für genuin amerikanisch halten.
Hohepriester Hayek
Die Libertarians (beziehungsweise der "Liberty Caucus", wie sich die Pauls und ihre 16 Gefolgsleute im Kongress selber nennen) sind nicht zu verwechseln mit der 1971 gegründeten Partei dieses Namens, auch wenn Ron Paul für sie 1988 den Präsidentschaftskandidaten gab. Diese Partei verzeichnet zwar seit Ende des vergangenen Jahrzehnts regen Zulauf, spielt aber realpolitisch de facto keine Rolle.
Auch wenn sie die Republikaner als ihre angestammte politische Heimat begreifen - historisch betrachtet, stellte ihr Flügel mit Calvin Coolidge von 1923 bis 1929 den Präsidenten, und mit Barry Goldwater 1964 ihren bisher letzten namhaften Kandidaten fürs höchste Amt im Staat - teilen die heutigen Libertarians dennoch viele Positionen mit dieser Partei. Im Prinzip verstehen sie sich als Gralshüter der amerikanischen Variante des klassischen Liberalismus, wie er im Zuge der Industrialisierung Westeuropas im 19. Jahrhunderts enstand. Die Buchstaben der Urversion der US-Verfassung (die fast ein Jahrhundert zuvor geschrieben wurde, aber quer durch die Jahrhunderte zahlreiche Zusatzartikel erhielt), nehmen sie so ernst wie die Taliban jene des Koran; jegliche Gesetze, die den freien Verkehr von Menschen und Waren einschränken, halten sie ebenso für Verbrechen an der Menschheit wie die Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder mittels militärischer Intervention.
Schuldenmacherei, für welche Zwecke auch immer, gilt ihnen - und hier treffen sie sich mit der Mehrheit der Parteigänger der Republikaner, die ihre Ideen im Zuge des Kampfes gegen Barack Obama neu entdeckten und vereinnahmten - als verantwortungsloses Spiel mit dem Schicksal der Nation.
Als Hohepriester ihrer Weltanschauung verehren die Libertarians einen Sozialphilosophen, der für seine Arbeit in den Siebzigern mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde: den gebürtigen Wiener August Friedrich Hayek, dessen im Zuge seiner Arbeit an der London School of Economics entstandenes, 1944 erschienenes Werk "The road to serfdom" ("Der Weg zur Knechtschaft") ihre Bibel darstellt. Auch wenn sich die Libertarians gegenüber den rechtsradikalen Kräften innerhalb ihrer Partei um Abgrenzung bemühen, waren und sind es vor allem sie, die der Tea-Party-Bewegung samt ihren Auswüchsen ihren intellektuellen Unterbau geben.
Während der neue Schlag der Konservativen freudig ihre ökonomischen Ideen aufgriff, ließen sie die gesellschaftspolitischen Aspekte der libertären Schule freilich samt und sonders unter den Tisch fallen. Aber sie hatten die Rechnung ohne Ron Paul gemacht. Auch im aktuellen Wahlkampf scheut er sich nicht davor, der in der Mehrheit schwer reaktionären Basis der Republikaner seine Mischung aus innenpolitischem Ultraliberalismus und außenpolitischem Isolationismus zu verkaufen. Tabus kennen er und sein Gefolge dabei keine. Drogen? Freigeben, ausnahmslos, auch harte wie Heroin und Kokain; jeder Erwachsene soll selbst entscheiden können, wie und mit welchen Substanzen er oder sie high werden will.
Gesetze, welche der Polizei und den Geheimdiensten die Überwachung und Ausforschung von Bürgern erleichtern, wie es seit der Ratifizierung des sogenannten Patriot Act von 2001 gang und gäbe ist? Radikal abschaffen, der Staat soll sich aus dem Privatleben seiner Bürger heraushalten, ohne wenn und aber. Die Subventionen für die Landwirtschaft und die Autoindustrie? Weg damit, das führe zu mehr Wettbewerb und damit zu besseren Produkten für die Konsumenten.
Zurück zu den Wurzeln
Zur Überraschung seiner Gegner wie der professionellen politischen Kommentatoren kommen diese Botschaften im Amerika des Jahres 2011 nicht nur an, sondern bilden mittlerweile einen fixen Bestandteil der politischen Debatte, auch wenn die innerparteiliche Konkurrenz alles tut, um Paul und die Seinen zu ignorieren. Der Politikwissenschafter Zbigniew Brzezinski, ehemaliger nationaler Sicherheitsberater von Jimmy Carter und heute in seiner Eigenschaft als Professor an der Johns Hopkins University in Washington D.C. eine Art liberales Gewissen der Nation, erklärt das Phänomen so: "In unsicheren Zeiten wie diesen, in denen nicht weniger als der Status des Landes als einziger verbliebener Supermacht auf dem Spiel steht, und die Schere zwischen Armen und Reichen so groß zu werden droht wie in den Dreißigerjahren, sehnen sich viele Amerikaner nach einer Ordnung, die auf dem aufbaut, was sie als kennzeichend für die Na- tion begreifen. Und nachdem das Selbstverständnis der USA vor allem anderen auf dem Freiheitsbegriff beruht, füllen für viele von ihnen die Libertarians dieses Bedürfnis nach einer Rückkehr zu den Wurzeln."
Eine Entwicklung, die Brzezinski dabei vor allem für eines hält: für gefährlich. "Die gesellschaftspolitische Haltung der Libertarians ist das eine. Aber wie sie sich und die Mitglieder der Tea Party im Streit um die Anhebung der Schuldengrenze verhalten haben, war schlicht und einfach unverantwortlich. Prinzipien sind das eine. Das Gesamtwohl des Staates ist aber etwas ganz anderes."
Klaus Stimeder, geboren 1975 in
Schärding/Inn, war Gründer und Herausgeber des Monatsmagazins "Datum"
und lebt nun als Autor und Journalist in New York.