)
Am 19. Mai vor 50 Jahren starb die Malerin.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Gabriele Münter? Das war doch die, die mit dem Russen befreundet war. Die hat doch auch gemalt." Das bekam noch in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ein Galerist zu hören. Inzwischen haben Kunstgeschichte und Kunstmarkt sie längst aus dem Schatten Wassily Kandinskys befreit.
Die 1877 in Berlin geborene Münter stand im Zentrum des beginnenden süddeutschen Expressionismus. Ihre Gemälde waren dabei, als die "Neue Künstlervereinigung München" 1910 Skandal machte: "Der Galeriebesitzer beklagte sich, dass er nach jeder täglichen Schließung die Bilder abtrocknen müsste, weil das Publikum sie angespuckt hätte." Und sie waren 1911 dabei, als die "Erste Ausstellung der Redaktion des Blauen Reiters" stattfand - eine bunte Revolution mit Werken auch von Franz Marc, Heinrich Campendonk, Wassily Kandinsky, August Macke, Robert Delaunay, Arnold Schönberg.
Aber natürlich gab es in Münters Leben eine Zeit davor und eine Zeit danach. Schon in ihren frühen Jahren gehorchte sie kaum bürgerlichen Vorstellungen. Eigentlich hätte es ja gereicht für ein junges Mädchen aus gutem Hause, hätte sie von allem ein bisschen verstanden: vom Klavierspielen, Handarbeiten, Briefeschreiben, Tanzen. Irgendwann wäre schon der Richtige gekommen und hätte sie zu seinem Weib genommen.
Aber Münter hatte ihren eigenen Kopf. Sie zeichnete, komponierte, trieb Sport am Rande des Schicklichen: Eislaufen, Schwimmen, Reiten, Fahrradfahren. Ab 1898 reiste sie zwei Jahre lang zusammen mit ihrer Schwester durch Amerika. Dort bekam sie einen Fotoapparat geschenkt, die "Codac Bulleye No. 2". Die offiziellen Sehenswürdigkeiten interessierten sie wenig. Stattdessen ein Sheriff zu Pferd, ein Mädchen beim Kükenfüttern, ein Dampfzug auf einer Brücke.
Die Schule "Phalanx"
Nach den zwei Jahren Amerika war Münter immer noch nicht bereit zu einem Dasein als Gattin und Hausfrau. Kunstakademien standen damals nur Männern offen. Also hatte sie Privatlehrer und ging auf "Damen-Akademien", wo man für viel Geld Unterricht bei etablierten Malern erhielt. Doch 1901 entdeckte sie in München eine neu gegründete Malschule. Die nannte sich "Phalanx", nahm jedermann ohne Ansehen der Herkunft auf - und besaß einen hochbegabten, charmanten Lehrer namens Wassily Kandinsky.
Münter wurde seine Schülerin, bald darauf seine Lebensgefährtin. Obwohl Kandinsky noch verheiratet war, verlobten sie sich; er schrieb ihr: "Meinem Gefühl nach bist du schon meine Frau." Damals bezog sie eine eigene Atelierwohnung in München-Schwabing. Die Entscheidung, Bett, Tisch und Staffelei in größte Nähe zueinander zu rücken, bedeutete für sie einen weiteren Schritt zur Selbstständigkeit. Die Wohnsituation lässt sich allerdings nicht mit heutigen Verhältnissen vergleichen. So teilten sich im München der Jahre 1904 bis 1907 laut Statistik in der Kategorie "Künstler" durchschnittlich 4,34 Personen eine Toilette. Für die Körperhygiene gab es nur Wasserkrug und Waschschüssel, zur Tee-Zubereitung einen Spirituskocher.
Diese Art von Künstlerexistenz erleichterte es, monate-, ja jahrelang unterwegs zu sein. Man hatte kaum Hausrat. Kleidung, Klappstaffelei und Farben nahm man im Koffer mit. Münter und Kandinsky verbrachten vier Jahre zusammen auf Reisen - Holland, Tunesien, Sachsen, Italien, Frankreich, Berlin, Südtirol, Oberbayern, Österreich. Der Aufenthalt in Sèvres bei Paris ab Sommer 1906 wurde künstlerisch besonders fruchtbar. In der französischen Hauptstadt war die Avantgarde zu Hause. Münter notierte sich die wichtigsten Namen: "Gauguin, van Gogh, Odilon Redon, Cézanne, Matisse, Berthe Morisot, Degas, Signac, Renoir."
Den Auslandsreisen folgte zwar keine Etablierung als Künstlerehepaar (Kandinsky ließ sich erst 1911 scheiden und löste sein Eheversprechen Münter gegenüber nie ein), aber doch eine folgenreiche Entscheidung. 1909 kaufte Gabriele Münter ein Haus in dem Voralpenmarkt Murnau, in dem sie fortan mit Kandinsky lebte und arbeitete. Hier trafen sie sich mit Alexej von Jawlensky, Marianne von Werefkin, August Macke und Franz Marc, hier war die Redaktionsstube des Almanachs "Der Blaue Reiter".
Münter und Kandinsky pflegten einen schlichten und naturverbundenen Lebensstil. Der einzige Luxus waren ein Harmonium und ein Klavier. Statt üppig geraffter Gardinen hingen Leinenstoffe an den Fenstern, in der Küche mussten ein Spülstein und ein schmales Büffet genügen.
Und auch das Wohnzimmer bot nur eine steiflehnige hölzerne Bank um einen quadratischen Tisch. Berühmt geworden ist dieses Eck durch Münters Gemälde "Kandinsky und Erma Bossi am Tisch", auf dem Kandinskys nackte Knie, Wadlstutzen und Reformschuhe zu sehen sind. Ein Pariser Kritiker äußerte darüber: "Mme Münter zeigt, was im Haushalt eines armen Vegetariers vorgeht, und das ist ganz und gar nicht erfreulich."
Das Gemälde ist von 1912. Zwei Jahre später war die Murnauer Idylle zu Ende. Münter und Kandinsky gingen bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs in die Schweiz. Kandinsky kehrte von dort aus nach Russland zurück, Münter emigrierte nach Schweden, wo sie auf ihn wartete.
Am 23. Dezember 1915 traf er in Stockholm ein. Keine drei Monate später reiste er wieder ab. Münter sollte ihn nie wiedersehen. Die Formel "Gabriele Münter-Kandinsky" war eine Illusion. So hatte sie sich seit ihrer Emi-gration genannt. Dass ihr Dauerverlobter im Februar 1917 die schwangere Nina Nikolajewna Andrejewskaja heiratete, erfuhr sie nicht. Sogar eine Suchmeldung beim Roten Kreuz gab sie auf, weil er nicht mehr schrieb. Eine schreckliche Erfahrung, die Münter lange nicht verwand.
Falsche Deutungen
Es wird immer wieder behauptet, Münters nun folgende skandinavische Bilder spiegelten ihre Einsamkeit und Verbitterung wegen Kandinskys Verhalten. Man weiß, dass sie litt, also liest man das Leiden ihren Bildern ab, beispielsweise der Kaltnadelradierung "Uhrmacher" von 1916. Von ihr heißt es, dass die dort ringsum aufgereihten Uhren auf die Seelenlage Münters verwiesen, denn die "angehaltenen Zeiger" symbolisierten ihren seelischen Stillstand. Normalerweise sorgt der Künstler durch kleine Batterien auf der Rückseite dafür, dass die Uhren immer weiter laufen, oder? Aber bei Münter stehen sie einfach! Ein Zeichen seelischen Stillstands, zweifelsohne!
Bis heute wird das Werk Münters unter dem Leidensaspekt gesehen. Jedes Pferd in ihrem Werk, und sei es ein fröhliches weißes Zirkuspferd, wird automatisch mit dem "Blauen Reiter" und damit Kandinsky und damit dem Verlassenheitselend gleichgesetzt. Malt sie Tannen im Gebirge unter einer Schneelast, bedeute das ihre eigene Gebeugtheit unter der Last des Schmerzes. Eine Nelke mit hängenden Stängeln symbolisiere die Trauer der Malerin. Ein Blick in ein botanisches Lexikon belehrt freilich, dass die dargestellte Blume eine Hängenelke ist. Die sehen immer so aus.
Diese Art Kunstbetrachtung verstellt den Blick auf das Gesamtwerk Münters. Denn sie lässt sich nicht auf die Zeit mit Kandinsky reduzieren: Fast 72 Jahre ihres 85 Jahre währenden Lebens verbrachte sie ohne ihn.
Produktive Spätzeit
In das Murnauer Haus kehrte Münter - nach Exil und Wanderjahren - 1931 zurück und lebte dort zusammen mit dem Kunsthistoriker Johannes Eichner bis zu ihrem Tod am 19. Mai 1962. Rund 2200 Gemälde schuf sie in ihrem Leben, dazu unzählige Zeichnungen, Fotografien, druckgrafische Werke. Sie fertigte Hinterglasbilder, malte abstrakt und im Stil der Neuen Sachlichkeit, sie schuf Holz- und Linolschnitte, sie warf karikaturenhaft treffende Bleistiftporträts aufs Blatt. Ihre Stillleben und Landschaften zeigen sie durchwegs als Meisterin von Umriss und Farbkomposition.
Auch wenn die Münchner Städtische Galerie im Lenbachhaus weltweit die bedeutendste Sammlung von Kunst des "Blauen Reiters" besitzt und damit einen Überblick über Münters uvre erlaubt - wer ihr Gesamtwerk erfassen möchte, muss durch die ganze Welt reisen. Gegenwärtig befinden sich immer noch viele ihrer Werke im internationalen Kunsthandel. So versteigerte man bei "Christie’s" 2008 ihr "Gelbes Haus mit Apfelbaum" für 460.000 Pfund, "Schnee im Herbst" wurde 2009 bei einer deutschen Auktion für 145.000 Euro verkauft, 2011 erlöste "Dorfstraße mit Fuhrwerk" 360.000 Euro.
Ja, Gabriele Münter ist längst angekommen im Kanon. Auch wenn Frauen in der internationalen Kunstgeschichte immer noch schmerzlich unterrepräsentiert sind, ist doch ihr Name hochberühmt, ja es gibt regelrecht Groupies, die nach München und Murnau pilgern und ihre Zimmer mit Münter-Postern schmücken. Man kann wohl so weit gehen zu behaupten, sie sei mittlerweile nicht nur eine weltweit anerkannte Vertreterin der Klassischen Moderne, sondern sogar eine, mit deren Bildern sich zu beschäftigen schick ist. Damit sich Bewunderer nicht etwa blamieren, wenn sie von ihr reden, gibt es im Internet sogar eine Anweisung, wie dieser komische deutsche Name auszusprechen ist. Das "phonetic spelling" gehe so: "Gah-bree-AY-luh MOON-tuh".
Na, dann üben wir mal!
Gudrun Schury lebt als Autorin, Literaturwissenschafterin und Dozentin in Bamberg. Sie veröffentlichte soeben "Ich Weltkind. Gabriele Münter. Die Biografie" im Berliner Aufbau-Verlag.