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"Die eine Wunderwaffe gibt es nicht"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Die Ukraine rüstet sich für die Gegenoffensive. Im Interview spricht Militäranalyst Franz-Stefan Gady über die Bedeutung des Kampfes der verbundenen Waffen und über die den Ukrainern bevorstehenden Herausforderungen.


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"Wiener Zeitung": Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat vor kurzem vage einen Abzug aus Bachmut angedeutet. Sie waren vor nicht allzu langer Zeit in der umkämpften und fast völlig zerstörten Stadt. Hat sich die ukrainische Strategie, die Russen in Bachmut abzunutzen und gleichzeitig fern der Front Kräfte für eine große Gegenoffensive aufzubauen, trotz der hohen eigenen Verluste ausgezahlt?

Franz-Stefan Gady: Für eine solche Schlussfolgerung ist es noch viel zu früh im Moment, das wird man erst in der Retrospektive eruieren können. Was gesagt werden kann, ist aber, dass der Kampf in Bachmut für beide Seiten extrem blutig ist. Und es ist möglich, dass die Abnutzungsrate für die ukrainische Seite derzeit nicht mehr so günstig ist, dass daraus langfristig ein Vorteil entsteht. Ich glaube aber nicht, dass die ukrainischen Streitkräfte in Bachmut tatsächlich eingekesselt werden. Wenn das droht, wird sich die Ukraine - sofern es keine allzu große Panik gibt - wohl geordnet zurückziehen können, um neue Verteidigungslinien westlich der Stadt zu beziehen. Es gibt in einem Abnutzungskampf aber nicht nur ein quantitatives Element, sondern auch ein qualitatives Element, und das könnte im konkreten Fall schwerer wiegen. Die Ukraine hat auch qualitativ hochwertige Truppen im Kampf um Bachmut eingesetzt, und wenn viele gut ausgebildete Soldaten getötet werden, könnte das die künftige Offensivkraft der Ukraine natürlich schwächen.

Vielfach war zuletzt die Rede davon, dass die russischen Kräfte in Bachmut, aber auch an anderen Frontabschnitten, kurz vor ihrem Kulminationspunkt stehen - also so stark abgenützt sind, dass sie nicht mehr weiter vorstoßen können. Teilen Sie diese Einschätzung?

Wir haben zuletzt tatsächlich beobachten können, dass die Kraft der russischen Angriffe in den verschiedenen Sektoren abgenommen hat. Es ist also durchaus möglich, dass der Kulminationspunkt der russischen Offensive erreicht worden ist. Auf jeden Fall ist zu sagen, dass beide Seiten Munitionsprobleme haben und auch schon Munition rationieren mussten. Die Ukraine macht das natürlich auch, weil sie die Bestände für ihre Gegenoffensive braucht. Auf russischer Seite ist der Artillerieverbrauch derzeit wohl größer als der Nachschub, der an die Front gebracht werden kann, beziehungsweise als das, was in kurzer Zeit nachproduziert werden kann.

Der Westen hat für die erwartete Gegenoffensive dutzende moderne Kampfpanzer und noch deutlich mehr Schützenpanzer an die Regierung in Kiew geliefert. Wird das für einen ukrainischen Durchbruch reichen?

Es ist schwierig zu sagen, wie viele Kampfpanzer und Schützenpanzer wirklich für diese Offensive zur Verfügung stehen. Diese Systeme müssen ja nicht nur am richtigen Ort und zur richtigen Zeit einsatzbereit sein, sie brauchen auch die volle logistische Unterstützung. Denn ohne Treibstoff und entsprechende Ersatzteile ist ein Kampfpanzer auf dem Gefechtsfeld kaum von Nutzen. Es kommt bei dieser Art von Offensive aber nie auf ein einzelnes Waffensystem an - die eine Wunderwaffe, die das Blatt wenden kann, das ist immer eine Illusion. Entscheidend ist vielmehr, wie die verschiedenen Einheiten - also etwa Kampfpanzer, Schützenpanzer, Panzerhaubitzen und Infanterie - im sogenannten Kampf der verbundenen Waffen gemeinsam operieren und sich im Verband gegenseitig unterstützen. Hier gibt es rudimentäre Fähigkeiten auf Seiten der Ukraine, die sich aber - auch durch westliche Hilfe - laufend verbessern. Die große Frage wird sein, ob dieser Kampf der verbundenen Waffen so gut und in einem so großen Rahmen geführt werden kann, dass es gelingt, tiefere Durchbrüche zu erzielen. Dabei spielt natürlich auch der Faktor Zeit eine Rolle. Je mehr Zeit diese Truppen zur Vorbereitung bekommen, umso besser wird das Zusammenspiel vor allem in größeren Verbänden werden. Wenn zu viel Zeit vergeudet wird, stärkt das aber natürlich die russische Seite, die ihre Verteidigungsstellungen weiter ausbauen kann. Es gibt also gute Argumente für einen schnellen Beginn der Offensive, aber auch gute Argumente, warum man noch warten sollte.

Gibt es eine ungefähre Einschätzung, wie groß diese Truppe ist, die sich für eine Gegenoffensive bereit macht?

Aus öffentlich zugänglichen Quellen weiß man, dass die Ukrainer ungefähr drei Korps mit jeweils 18.000 bis 25.000 Mann als Speerspitze aufstellen. Einige dieser Einheiten werden komplett mit westlichen Waffensystemen ausgestattet werden.

Wie kann so eine Offensive verlaufen und wo ist so ein Vorstoß zu erwarten?

Man weiß nicht, wo diese Offensive stattfinden wird, und es ist auch müßig, darüber zu spekulieren, ob dass mit einem großen Angriffskeil passieren wird oder ober es mehrere kleinere, schleichende Offensiven an verschiedenen Frontsektoren geben wird. Die Wahrscheinlichkeit ist aber hoch, dass die Frühlingsoffensive eher so abläuft wie in Cherson und nicht wie in Charkiw. In Charkiw gab es einen schnellen Durchbruch, der dann effizient ausgenutzt wurde, um tief in den feindlichen Raum einzudringen. In Cherson verlief der Verstoß zwar stetig, aber langsam, und es gab hohe ukrainische Verluste.

Russland hat überall an der Front Verteidigungsstellungen gebaut. Es wurden Schützengräben ausgehoben und Panzersperren errichtet. Wie schwierig ist die Überwindung solcher Befestigungsanlagen?

Wenn die nötige Ausrüstung nicht vorhanden ist, ist es extrem schwierig, vor allem Minengürtel zu überwinden. Das hat die Schlacht um Wuhledar, bei der die Russen nicht genügend Minenräumgerät zu Verfügung hatten, ebenso gezeigt wie die dadurch stark verlangsamte ukrainische Offensive in Cherson. Ich hoffe, dass die Ukrainer über genügend Pioniergerät, Minenräumpanzer und Brückenleger verfügen, denn das braucht man, um gegnerische Verteidigungslinien und natürliche Hindernisse schnell zu überwinden.

Wie wird Russland auf einen erfolgreichen Vorstoß reagieren?

Wahrscheinlich vor allem mit der Feuerkraft von Artillerieeinheiten und Gegenstößen. Es wird sicher eine operative Reserve im Hinterland bereit gehalten werden, um eventuelle Durchbrüche abzufangen beziehungsweise die Offensive gleich im Keim ersticken zu können.

Immer wieder ist darüber spekuliert worden, dass die russische Seite bei größeren ukrainischen Durchbrüchen auch taktische Atomwaffen einsetzen könnte.

Das ist eine Gefahr, die man natürlich nie unterschätzen darf. Solange die russische Seite glaubt, den Krieg noch gewinnen zu können, würde ich das Risiko als sehr gering einschätzen. Das Risiko wird aber steigen, wenn sich der totale Kollaps der russischen Streitkräfte im Süden der Ukraine abzeichnet und die Krim bedroht wird. Ich halte die Gefahr zwar auch dann noch für gering, aber es ist ein Problem. Eine Atombombe ist nicht einfach eine größere konventionelle Waffe. Allein die psychologische Wirkung wird so enorm sein, dass eine Fortführung der ukrainischen Offensive sehr schwierig sein wird.

Die ukrainische Militärführung hat immer wieder davon gesprochen, auch die Krim befreien zu wollen. Wie realistisch ist das?

Im Moment sehe ich das sowohl wegen der geografischen Situation als auch der gut ausgebauten russischen Verteidigung als sehr schwieriges militärisches Unterfangen an.

Zur Person~