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Die einfache Welt der zwei Lager

Von Karl Kollmann

Reflexionen
Wie weit driften sie noch auseinander?
© WIener Zeitung

Materialisten versus Post-Materialisten, Hyperkultur versus Kulturessentialismus: Es gibt viele Etiketten, mit denen die beiden gegenwärtig bestimmenden Subkulturen belegt werden. Eine Bestandsaufnahme.


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Heute wird oft von zwei politischen Lagern in Österreich gesprochen, die sich polarisiert gegenüber stehen. Das wird aus Themen hergeleitet, die für erheblichen Wirbel gesorgt haben: vor allem die schon ältere sexuelle Individualisierung bzw. das Genderthema, und mittlerweile natürlich die Flüchtlingsfrage. Aber, es sind nicht politische Lager, sondern weit umfassender zwei Kulturen, genauer: zwei große Subkulturen, die sich langsam entwickelt haben und heute kollidieren.

Die antiautoritäre Studentenbewegung, welche in den 1960er Jahren entstand (die "68er"), wollte anders leben und denken als die Mehrheit, die in den Wirtschaftswunderjahren zu etwas Wohlstand gekommen war. Für sie gab es zwei Schwerpunkte: einerseits das Bestreben, politisch einen echten Sozialismus (anders als im Kommunismus) herzustellen; andererseits die Befreiung des Einzelnen aus alten konservativen, autoritären und konsumgesellschaftlichen Zwängen kulturell voranzutreiben.

Kultureller Aufbruch

Während der politische Teil der Bewegung sich selbst zerfleischte und rasch vom politischen und medialen Establishment aufgerieben wurde, gelang das, was man kulturelle, vor allem: sexuelle Befreiung nannte, mit den Jahren halbwegs. Dieser Aufbruch aus traditionellen Moralvorstellungen wurde mit neuer subtiler Kapitalismuskritik ergänzt: Konsumenten- und Umweltschutz konnten sich ebenso etablieren wie Atomwaffen- und Atomkraftskepsis, die Friedensbewegung (Vietnam) und eine Art von postmaterialistischem Denken.

Inspiriert von der US-amerikanischen Alternativbewegung und ihren Ablegern in Europa, entwickelte Ronald Inglehart (Universität Michigan) seine Postmaterialismusthese in den 1970er Jahren. Vereinfacht besagt sie, mit steigendem Reichtum einer Gesellschaft wendet sich diese langsam von materiellen Zielen ab, während postmaterielle Werte zunehmend wichtiger werden.

Mit dem Wohlstand kommt das Interesse an nichtmateriellen Ideen, Werten und Lebensweisen auf. Allerdings hatte Inglehart dabei die Faszination der Konsummöglichkeiten übersehen: Man kann bei steigendem Einkommen zwar nicht doppelt so viel essen, aber doppelt so groß wohnen, sich mehrere Fernseher in die Wohnung stellen, zwei Autos besitzen und jährlich rund um die Welt fliegen; das zu verkennen war ein struktureller Fehler der These. Dass sie relativ grob und unscharf ist, bleibt - wie bei vielen sozialwissenschaftlichen Begriffen - hingegen verzeihlich.

Was ist Postmaterialismus konkret? Postmaterialistische Werte umfassen: Selbstverwirklichung, freie Meinungsäußerung, Verbesserung der Umwelt, soziale Solidarität und Anerkennung jenseits materieller Güter, mehr Einfluss der Bürger und Mitbestimmung, Gleichheit aller, Konsensorientierung, eine freundliche, offene und tolerante Gesellschaft.

Materialistische Werte sind demgegenüber das Bedürfnis nach Sicherheit, Landesverteidigung, Katastrophenschutz, Verbrechensbekämpfung, Ruhe und Ordnung im gesellschaftlichen Umfeld, Risikovorsorge, eine gute Versorgungslage, Stabilität und Wachstum der Wirtschaft sowie der Einkommen und geringe Preissteigerungen.

Medien und Bildungseinrichtungen griffen postmaterialistische Werte begierig auf und sorgten für deren breite Streuung in viele gesellschaftliche Subkulturen. Das neue "Links" war postmaterialistisch - und diese Postmaterialisten wurden später Lehrer, Journalisten, Beamte, Mitarbeiter im Kulturbetrieb und in politischen Parteien. Sie waren Urheber und Mitglieder vieler NGOs und Bürgerinitiativen. Grüne Parteien entstanden, feministische Gruppen, Menschenrechtsorganisationen und kritische Tierschutzvereine. Gerechtigkeit, Gleichheit, Anerkennung, besser noch Förderung von Minderheiten und Diversität, ebenso wie Multikulturalität standen auf der Prioritätenliste ganz oben.

Besonders erfolgreich waren die Postmaterialisten bei Umweltthemen, bei denen sie die traditionellen Parteien thematisch vor sich hertrieben.

Erziehung statt Gene

Etwa ein Drittel der Österreicher besteht heute aus Postmaterialisten (harter Kern 10 Prozent), zwei Drittel aus Materialisten (harter Kern 35 Prozent). Postmaterialistische Eltern erziehen und versorgen ihre Kinder natürlich nach den neueren Vorstellungen: Sie gehen in alternative Schulen, werden mit Homöopathie statt technischer Medizin (trotz aller Technikfreundlichkeit) behandelt, und Esoterik spielt dabei auch eine immer größere Rolle.

Das Kind rückt dabei immer mehr in den Mittelpunkt. Ihm sollen die Fehler einer "Dressur zum autoritätshörigen Knecht" erspart bleiben. Tolerante statt repressive Eltern sind angesagt - und: Der kleine Mensch gilt als prinzipiell gut, wie im Grunde alle Menschen (nach dem Vorbild Rousseau). Insgesamt kommt es auf Erziehung statt auf Gene an, ebenso wie das Geschlecht als sozial konstruiert gilt. Aus all diesen Vorgaben entwickelten sich langsam die heutigen Mittelschicht-"Helikopter-Eltern", und mit ihnen die selbstbezogenen, narzisstischen "Generationen Y und Z" gegenwärtiger Twens.

Postmaterialismus und Materialismus beschreiben zwei Großmilieus bzw. Subkulturen in den Gegenwartsgesellschaften, die Andreas Reckwitz (Universität Frankfurt/Oder) als Lebensformen von Hyperkultur und Kulturessentialismus zusammengefasst hat. Auch diese Begrifflichkeiten sind unscharf, fransen in der Realität aus, aber das war mit dem Klassenbegriff nicht anders.

Die erste Großgruppe (Hyperkultur) ist stark vom Selbstverständnis der Selbstverwirklichung, Buntheit, Diversität, Politischer Korrektheit, sozialer Anerkennung, Feedback und Lob geprägt; man will gesehen und gehört werden - gelingt das nicht, ist man rasch beleidigt, gekränkt und fühlt sich benachteiligt. Das Gruppengefühl (Stichwort: der alte Gruppendruck, heute "Filterblase" genannt) ist dabei eine wichtige Ressource. Perspektivisch ist man kosmopolitisch und multikulturell; den alten Nationalstaat mag man nicht, dafür mehr Europa; Heimat galt (zumindest bis zum Van-der-Bellen-Wahlkampf) als gestrig und schal, es regiert die Fiktion einer großen, offenen, bunten Welt.

"Bobos" und "Lohas"

Postmaterialisten sind an sich keine besseren, weil bescheidenere Verbraucher, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte. Sie konsumieren gerne, aber "richtig", und belehren begeistert die anderen dazu: also zu biologischen und Fair-Trade-Produkten, Gemüse beim Türken, veganem Essen plus Craft Beer in kleinen Lokalen. In der Gewissheit ihrer Gruppe beanspruchen sie absolute Deutungshoheit - das eigene Milieu war immer schon die große Filterblase.

Das Marketing etikettiert sie als "Bobos" (Abkürzung aus den Wörtern bourgeois und bohémiens) bzw. "Lohas" (nach engl. Lifestyles of Health and Sustainability), für die neue Märkte geschaffen werden, trotzdem sind diese Gruppen authentischem Luxus nicht abgeneigt. Von der Unterschicht will man sich distanzieren, sieht sich als linksliberal bis links und grün, die soziale Frage (Verteilung) ist jedoch kein großes Thema, Politik vor allem symbolisch orientiert. In manchem ähnelt diese Gruppe dem "autoritären Charakter" der "Kritischen Theorie", wenn etwa am eigenen Arbeitsplatz Herrschaftsstrukturen und prekäre Verhältnisse achselzuckend akzeptiert werden.

Die zweite Großgruppe, die Materialisten bzw. Kulturessentialisten, sind demgegenüber traditionell, also an sicherer Erwerbsarbeit und Überschaubarkeit der Um- und Sozialwelt interessiert. Das Auto ist wichtig, ebenso das Eigenheim (dazu als Wertanlage für Kinder) und - sofern man kann - Sparen als Risikopolster. "EU-Brüssel" bleibt ein undurchsichtiges Gebilde und macht daher von vornherein misstrauisch.

Kulturessentialisten sind die früheren Kleinbürger, die untere Mittelschicht, die Arbeiter und die Deklassierten, die im Schnitt weniger formal ausgebildet sind als Postmaterialisten und tendenziell eher am Land leben als in der Stadt. Angst haben Materialisten zuerst vor dem Verlust der Arbeit, nicht vor symbolischen Anerkennungseinbußen. Man weiß sich in der heutigen Abstiegsgesellschaft auf der gefährdeten Seite, sieht sich als Verlierer - und ist es auch oft. Neues (außer bei Konsumelektronik) begeistert nicht so sehr, wichtig ist, was Eltern, Verwandte oder Freunde machen. Von der Politik ist man enttäuscht, für Diskussionen fehlt einem die rhetorische Gewandtheit und Finesse.

Unheilvolle Dynamik

Viele wirtschaftlich Schwächere wissen, dass sie beim Einkommen in den letzten Jahren zu kurz gekommen sind. Sie ahnen, dass sie es sind, die als zu unreif gelten, wenn die "Eliten" partizipative Demokratie ablehnen, und sie verstehen etwa Genderthemen als bloß symbolische Politik. Sie wissen, dass die Frauenquote (etwa in Aufsichtsräten) nicht für sie, sondern nur für Eliten gedacht ist. Die Ohrfeige fürs unfolgsame Kind hat man sich mühsam abgewöhnt, aber Migranten, die ihre Frauen versklaven und kleine Kinder verstümmeln - das soll dann wieder in Ordnung sein, weil eben Vielfalt und Multikulti!? Man hat gemerkt, dass wer hier eine andere Meinung hat, rasch als Hetzer und Rassist abgestempelt wird.

Ja, Materialisten sind konservativ, behäbig und haben oft ähnlich autoritäre Züge wie die andere Seite. Sie kommen meist aus schlechter ausgebildeten, einkommensschwächeren, materialistisch orientierten Elternhäusern (Stichwort: soziale "Vererbung" des Milieus) und die Eliten, die Postmaterialisten, die nun in den Medien, Schulen, Bildungsorganisationen usw. sitzen, lassen sie das gar nicht selten spüren. Das erzeugt zuerst Angst, dann Wut und schließlich drängt es die Betroffenen politisch nach "rechts", da es niemanden aus dem linken politischen Spektrum gibt, der sie verstehen will und ihre Interessen vertritt.

Der Soziologe und Kulturwissenschafter Andreas Reckwitz hält die gegenwärtige Phase erst für den Anfang einer gravierenden kulturellen Auseinandersetzung - und damit könnte er Recht haben. Beide Subkulturen erscheinen wie voneinander abgeriegelt, was eine unheilvolle Dynamik schafft, denn bei beiden werden wohl in der Zukunft ex-tremere Positionen (noch) mehr Zulauf haben.

Karl Kollmann ist promovierter Soziologe und habilitierter Ökonom, Schwerpunkt Verbraucherforschung, und war viele Jahre in der österreichischen und europäischen Verbraucherpolitik tätig.