Kabul - Als ein Prediger im Morgengebet nach den Angriffen auf Kabul zum Heiligen Krieg gegen Amerika aufruft, befinden sich Tausende verängstigte Einwohner der afghanischen Hauptstadt bereits auf der Flucht. "Ich schlafe lieber unter freiem Himmel, als noch eine weitere Nacht in der Stadt zu bleiben", sagt ein Flüchtling. Drei Angriffswellen des amerikanischen und britischen Militärs hatten die Bewohner der Städte Kabul, Dschalalabad und der Taliban-Hochburg Kandahar während der Nacht zum Montag in Angst und Schrecken versetzt.
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"Wir konnten die ganze Nacht nicht schlafen. Das war das Schlimmste, was wir seit Jahren erlebt haben", sagt ein Einwohner Kabuls fassungslos. Seine Kinder seien traumatisiert. Ein andere Mann, dessen Haus bei den Angriffen zerstört wurde, sagt: "Wir hatten gerade das Radio angeschaltet, als wir über uns das Motorengeräusch von Flugzeugen und die Explosionen hörten. Dann füllte sich unser Zimmer mit Qualm." Gottseidank hätten sich alle rechtzeitig ins Freie retten können.
Im Morgengrauen sammeln sich Kinder, Frauen und Ältere an Bushaltestellen in Kabul, um aus der Stadt zu fliehen. "Wir gehen, weil wir hier nicht mehr sicher sind - dank Amerika", sagt ein älterer Mann. Er wolle es seinen Kindern ersparen, eine weitere Nacht in dieser Hölle zu verbringen. Während sich die Flüchtlingsströme in Richtung der umliegenden Berge bewegen, hallt es in Kabul aus den Lautsprechern der Moscheen: "Wir müssen uns für unser Land und für die Taliban opfern."
Unterdessen versuchen einige Bewohner der Hauptstadt, zum Alltag zurückzukehren. Geschäfte öffnen, und auch die Wachen vor den Regierungsgebäuden der Taliban erfüllen ihre Arbeit in gewohnter Manier.
Unklar blieb, wie viele Menschen bei den Angriffen getötet wurden, die US-Präsident George W. Bush als "sorgfältig gezielt" bezeichnete. "Nur Gott weiß, was wirklich passiert ist", klagt ein Einwohner Kabuls. Der Taliban-Botschafter in Pakistan, Mullah Abdul Salam Zaeef, geht von mindestens 20 Toten aus. Auch Häuser in der Nähe des Flughafens von Kabul seien getroffen worden. Frauen und Kinder seien ums Leben gekommen, sagt er in Islamabad. Seinen Worten zufolge sind Osama bin Laden und Taliban-Oberhaupt Mullah Omar "Gott sei Dank" noch am Leben.
Ein Taliban-Kämpfer im Stützpunkt Karte Nau östlich von Kabul berichtet, er habe vier seiner Kameraden bei den Angriffen verloren. Er selbst erlitt Hand- und Beinverletzungen. 40 Kilometer nördlich von Kabul konnten die Anhänger der oppositionellen Nordallianz in der Nacht den erleuchteten Himmel über Kabul sehen und brachen in Jubel aus. Augenzeugen berichteten, die Angriffe hätten Kämpfer der Allianz dazu motiviert, selbst einige Raketensalven auf Stützpunkte der Taliban-Armee abzufeuern. Sie planten weitere schwere Angriffe, hieß es.