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Die Eiskönigin kommt im Sommer

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik
Mit umso entschlosseneren Schritten, nachdem sie zuvor in die falsche Richtung abgebogen ist: May nähert sich in Leoparden-Schuhen ihrem neuen Wohnsitz, Downing Street Nr. 10.

Wer ist Theresa May? Wofür steht die Tory-Politikerin, die am Mittwoch nach Nr. 10 Downing Street zieht?


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London. Eine schwierigere Zeit für den Einzug in Downing Street hätte sie sich kaum aussuchen können. Selbst Winston Churchill, hieß es diese Woche in London, täte sich mit einer solchen Herausforderung schwer.

Theresa May, die kein Churchill ist, soll die "Brexit-Premierministerin" Großbritanniens werden. May übernimmt die Regierungsgeschäfte in einem Sommer, in dem ihre Partei und ihr Land tief gespalten sind und das Verhältnis Großbritanniens zum Rest Europas vollkommen in der Luft hängt.

Ihre Mehrheit im Parlament beträgt nur 16 Stimmen. Ihr selbst stehen Entscheidungen von enormer Tragweite bevor. Und doch gibt sie sich zuversichtlich.

Einem kritisch-respektvollen Beobachter wie Londons linksliberalem "Guardian" kommt sie vor wie "eine gelassene Schuldirektorin in einem Raum voll übergeschnappter Schuljungen aus den privaten Top-Schulen" im Königreich. Die Schuljungen, allen voran David Cameron, Boris Johnson und Michael Gove, haben ein wüstes Chaos angerichtet, bevor sie kreischend davonliefen. Jetzt soll die Schuldirektorin wieder für Ordnung sorgen vor Ort.

Vielleicht ist es so ja kein Wunder, dass viele Parteigänger der eben zur Parteichefin gekürten 59-Jährigen erleichtert sind, jemanden mit "fester Hand" und von ruhigem Naturell an der Spitze der Regierung zu wissen. Im Unterschied zum witzelnd-sprunghaften Johnson oder zum von Veränderung besessenen Gove war May die "Kandidatin für Kontinuität". Sie galt immer als verlässlich.

Viel Zuneigung beim Volk hat sie sich mit dieser Ernsthaftigkeit zwar nicht verschaffen können. Aber Anerkennung hat sie sich über die Jahre ertrotzt. Schon ihr Eigensinn und ihre Unbekümmertheit haben ihre Zeitgenossen gelegentlich überrascht aufschauen lassen. Zum Beispiel als May den Tories vor 15 Jahren den Spiegel der "hässlichen Partei" vorhielt und sich wütende Reaktionen einhandelte. Oder als sie dem britischen Polizeiverband auf dessen Jahres-Versammlung die Stirn bot und ihm Korruption vorwarf.

Pfarrershaus statt Silberlöffel

Sie selbst hat immer beharrt, ihren moralischen Instinkten und nicht einer Ideologie folgen zu müssen. Das hat sie, in gewisser Weise, mit dem früheren Labour-Premier Gordon Brown gemein. Wie Brown ist sie ein Pfarrerskind, aufgewachsen in der Atmosphäre eines gewissen Puritanismus. Ihren eisernen Willen erklären sich jene, die sie kennen, von dieser Kinderstube her.

Aus einfacheren Verhältnissen stammt May jedenfalls als all die Millionärssöhnchen und Aristokratensprosse der jüngsten Tory-Jahre, als die Eton-Zöglinge Cameron und Johnson also, oder der blaublütige Schatzkanzler und Fabrikantensohn George Osborne - die Jungs mit dem Silberlöffel im Mund. Beide Großmütter Mays waren Dienstbotinnen.

Allein durch Fleiß, nicht durch Verbindungen, schaffte May es nach Oxford. Sie studierte Geografie und arbeitete später für die Bank of England und andere Finanzinstitute. Ihren Ehemann Philip, der ebenfalls ins Bankgeschäft ging, lernte sie auf einer Tory-Studenten-Disco kennen.

Im Süd-Londoner Stadtteil Merton war Theresa May acht Jahre lang als Gemeinderätin aktiv. 1997, als im Land die Tories die Macht an Tony Blairs Labour Party verloren, gelang ihr der persönliche Durchbruch. Sie zog als Abgeordnete für Maidenhead, eine Stadt westlich von London, ins Unterhaus ein.

In den folgenden Jahren wurde sie rasch als fähige Politikerin wahrgenommen. Binnen kurzer Zeit war sie Tory-Parteipräsidentin und erregte Aufsehen nicht nur durch eigenwillige Äußerungen, sondern auch durch ein noch eigenwilligeres Schuh-Sortiment.

Theresa Mays spitze Leopardenfell-Stöckel wurden damals zum Objekt der Faszination für ihre doch überwiegend konservativen männlichen Kollegen. Von Margaret Thatcher war man(n) nur kantige Handtaschen gewohnt. Einfach war es nicht, in die etablierten Männerbünde einzubrechen, die sich um so geschmeidige Operateure wie Cameron oder Mega-Egos wie Johnson scharten.

"Sie kann nicht plaudern"

Über ihre spröde Art schüttelten Freund und Gegner gleichermaßen den Kopf. "Sie weiß einfach nicht zu plaudern", wunderte sich der frühere Liberalenchef und Vize-Premier Nick Clegg einmal. "Small talk" sei ihr fremd. Die "Eiskönigin" der britischen Politik hat Clegg sie genannt.

May selbst hat freilich auch nie behauptet, zur Gesellschaftslöwin zu taugen. Sie setze sich eben "nicht gern in Szene", hat sie noch vor kurzem erklärt. "Ich tratsche nicht über Leute beim Lunch. Ich trinke nicht in den Bars des Parlamentsgebäudes. Ich trage auch nicht mein Herz auf der Zunge. Ich mach einfach den Job, der gemacht werden muss."

Und ihr "Job" seit 2010 war der der Innenministerin. Den hat sie länger versehen als sonst ein Politiker in den letzten hundert Jahren. Kein Skandal hat May aus diesem Ressortleiter-Sessel hebeln können. Nicht mal die Tatsache, dass die Netto-Einwanderung nach Großbritannien in Mays letzten Amtsjahr auf 330.000 anwuchs, während David Cameron hochheilig versprochen hatte, sie auf unter 100.000 zu drücken.

Dass Dinge wie diese ihr nie schadeten, sondern eher anderen zur Last gelegt wurden, sei immer einer ihrer "brillantesten" Tricks gewesen, hat einmal Jonathan Foreman im rechtskonservativen "Daily Telegraph" moniert. Theresa May wisse eben, "wie man sich etwas als Verdienst anrechnet und gleichzeitig Schuld für anderes von sich abgleiten lässt". Dabei sei sie "verschlossen, rigid, kontrollsüchtig und sogar rachlustig".

Andere, wie Thatchers Schatzkanzler Ken Clarke, haben May in den jüngsten Tagen als "eine verdammt schwierige Frau" bezeichnet - nicht ohne hinzuzufügen, sie sei "sehr, sehr gut" in allem, was sie tue. Leicht sei die Zusammenarbeit mit ihr nicht, haben Kollegen Mays geklagt, die lieber ungenannt bleiben wollen.

Wieder andere, die sie kennen, betonen ihre Offenheit im Gespräch, ihr Akzeptieren guter Argumente, ihren Willen zum Kompromiss.

May vereinigt Widersprüche. Einerseits hat sie gesellschaftlich-liberale Ansichten an den Tag gelegt. Sie hat versucht, Polizisten rassistische Instinkte auszutreiben, gegen häusliche Gewalt vorzugehen und Kindesmissbrauch aufzudecken. Bei der Einführung der Homo-Ehe hat sie nicht gezögert, für diese Partei zu ergreifen.

Andererseits sieht sie sich autoritärer Neigungen bezichtigt - wie in der Frage der "Schnüffler-Charta", bei der es um erweiterte Befugnisse für die Geheimdienste und eine erneute Einschränkung der Privatsphäre geht. Und in Sachen Immigration und Asyl hat sie von Anfang an eine harte Linie vertreten. Als Flüchtlinge vergangenes Jahr über den europäischen Kontinent gewandert kamen, plädierte sie für das sinnbildliche Aufziehen der Zugbrücke in Dover und Folkestone.

Noch voriges Jahr auf dem Tory-Parteitag warnte sie ihre Landsleute in so schrillen Tönen vor den Gefahren der "Massenmigration" für "den Zusammenhalt der britischen Gesellschaft", dass selbst konservative Kommentatoren von einer "ganz üblen Rede" sprachen.

Inzwischen, an der Schwelle zur Macht, kommt sie wieder eher mit sanfter Rhetorik.

Plötzlich bricht sie Tabus, die nicht einmal Tony Blair und schon gar nicht David Cameron so zu brechen gewagt hätten: "Wir müssen über Steuern reden. Steuern sind der Preis, den wir für das Leben in einer zivilisierten Gesellschaft entrichten." So präsentiert sie sich als "One-Nation-Tory" - als Tory-Regierungschefin fürs ganze Land.

Brexit-Gegnerin für den Brexit

Wie sie freilich die Widersprüche bei den kommenden Verhandlungen mit der EU lösen will: Das weiß in Mays Partei niemand - und vielleicht nicht einmal sie selbst. Sie war ja eigentlich für Verbleib in der EU gewesen.

Den Tory-Hardlinern hat sie gelobt, dass jedenfalls am Austritt nicht zu rütteln ist. "Brexit bedeutet Brexit", hat sie mehrfach erklärt. Weder will sie Neuwahlen ausschreiben, noch ein zweites Referendum in Betracht ziehen, wie es viele Briten fordern. Ein neues "Ministerium für Brexit" soll sich das Nötige einfallen lassen, damit Ende des Jahres die britische EU-Mitgliedschaft in aller Form gekündigt werden kann.

Unlösbar? May gibt sich zuversichtlich. Als sie am Dienstag, nach Camerons letzter Kabinettssitzung, aus der schwarzen Tür von Nr. 10 Downing Street trat und vom Pulk der Fotografen um ein paar Bilder vor der künftigen Adresse gebeten wurde, stolperte sie zwar erst nach rechts - in die falsche Richtung - und dann kopfschüttelnd nach links, bevor sie sich nochmal vor die Tür stellte. Nur das Lächeln: Das wusste sie die ganze Zeit zu wahren.