Wahrscheinlich ist die "Millionärskolonie" die spektakulärste Wohnsiedlung Berlins. Sie zog Staunen, Neid oder Hass auf sich. Mit ihr schließe ich meine kleine Grunewald-Trilogie.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Zwar hatten die Deutschen 1871 Frankreich besiegt, den unglücklichen Napoleon III. gefangen genommen und Paris gedemütigt. Dennoch kam Kanzler Bismarck mit Magengrimmen aus Versailles zurück, wo er gerade der Proklamation des Kaiserreichs beigewohnt hatte. Etwas mit der Pariser "Avenue des Champs-Élysées" Vergleichbares gab es im preußischen Berlin halt nicht.
Der schnauzbärtige Fürst wollte aber an der Spree etwas Ähnliches haben, einen möglichst prachtvollen breiten Boulevard, der vom städtischen Zentrum in einen grünen Wald führte. Ein mit hölzernen Knüppeln ausgelegter Reitweg schien ihm dafür wie geschaffen. Er führte vom Tiergarten zum Grunewald - der Kurfürstendamm.
Doch wie stampft man eine Prachtstraße aus dem sumpfigen Boden, die in einem Wald endet? Wie gewinnt man private Investoren für ein solches Prestige-Projekt? Richtig! Man setzt sich über alle Einwände der Forstleute und der Stadtverwaltung hinweg und macht mit einem Bankenkonsortium unter Führung der Deutschen Bank ein Koppelgeschäft: Die Financiers erklären sich zum Ausbau des Kurfürstendamms bereit - allerdings nur unter der Bedingung, dass sie das Vorkaufsrecht auf 234 Hektar Waldgelände am westlichen Ende des Boulevards erhielten und dort eine Villenkolonie anlegen dürften.
1886 - mit der Eröffnung der Dampfstraßenbahn vom Bahnhof Zoo nach Halensee - wurde die neue Magistrale eingeweiht und in den folgenden Jahren mit pompösen, hochherrschaftlichen Mietshäusern bebaut. Schnell entwickelte sie sich zur "City" des Neuen Berliner Westens mit zahlreichen Cafés, Ladengeschäften, Revuetheatern, Tanzlokalen und Kinos.
Die Erschließung des Grunewaldgeländes ging jetzt ganz schnell: Zusätzlich zum natürlichen Halensee im Norden und Hundekehlesee im Süden der künftigen Kolonie legte man vier künstliche Seen an: Diana-, Koenigs-, Hertha- und Hubertussee. Damit legte man gleichzeitig das sumpfige Gelände trocken, vermied Brackgewässer und schuf wertvolle Seegrundstücke. Gerade die Anlage der Seen prägte die malerische landschaftliche Gesamtwirkung. Die Seen wurden in nur einem knappen Jahr ausgehoben und durch artesische Brunnen mit Wasser aufgefüllt, die Ufer befestigt und mit einer gewässertypischen Vegetation versehen. Bis heute sind sie - im Gegensatz zu den natürlichen Seen - nicht durchgehend für Erholungssuchende zugänglich.
Auf dem Areal entstand dasnobelste Villenviertel der Stadt; zwar im wilden Stil-Mischmasch, aber gepflegt und vornehm. Das reichliche Grün durfte nur spärlich verbaut werden, die Gärten blieben groß und luftig.
Hier siedelten sich vor allem Bankiers, Unternehmer, Professoren, Künstler und Schriftsteller an - insbesondere das arrivierte und assimilierte jüdische Bürgertum. Die Opernsängerin Lilli Lehmann zählte zu den ersten Bewohnern; es folgten Außenminister Walther Rathenau, der Physiker Max Planck, der Theaterkritiker Alfred Kerr, die Schriftsteller Gerhart Hauptmann, Vicki Baum und Lion Feuchtwanger, der Verleger Samuel Fischer, die Bankiers Franz und Robert von Mendelssohn, die Verlegerfamilie Ullstein. Bis in die 30er Jahre hinein prägten diese Bewohner den Ruf der Villenkolonie als kulturelles und kommunikatives Zentrum.
Heute gibt es ein paar öffentliche Institutionen, die diese Tradition noch pflegen: Das Wissenschaftskolleg, die Europäische Akademie, das St.-Michaels-Heim und viele Botschaftsresidenzen. Aber der alte Glanz ist dahin.
Markus Kauffmann, seit rund 25 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.