Zusammenspiel der Nervenzellen ist noch wenig erforscht. | "Kreativität ist eine der härtesten Nüsse." |
§§"Wiener Zeitung": Morgen, Freitag, ist das Zentrum für Hirnforschung der Medizinuni Wien zehn Jahre alt. Wie viele Gehirnfunktionen kennt man bereits? | Jürgen Sandkühler: Die Frage ist anders zu stellen. Das menschliche Gehirn ist keine Landkarte mit weißen Flecken. Sondern die Hirnforschung gleicht der Entdeckung der Welt, als man noch nicht wusste, wie groß die Erde ist.
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Wir verstehen bereits viel von den Nervenzellen und den Enzymen im Gehirn. Aber wie diese hunderten Milliarden von Bausteinen zusammenspielen, um Sinneseindrücke, Genuss oder Warnsignale zu generieren, ist noch wenig verstanden.
Welches ist derzeit das größte Rätsel in diesem Feld?
Eine der größten Fragestellungen dreht sich darum, ob es einen freien Willen gibt. Etwa hat ein Team nun herausgefunden, dass die Hirnaktivität einem deterministischen Chaos folgt. Das heißt: Wenn die Probanden ihren Gedanken freien Lauf lassen, folgt ihre Gehirn-Aktivität einem bestimmten Muster, dessen Dauer wir allerdings nicht vorhersagen können. Dennoch ist die Aktivität nicht zufällig.
Habe ich demnach einen freien Willen oder nicht?
Wir wissen es noch nicht. Denn im hochkomplexen, störungsanfälligen Gehirn laufen auch viele Prozesse ab, die sehr wohl vorhersagbar sind: Ganz bestimmte Auslöser verursachen Angst oder Freude. Es muss also eine Funktion geben, die Stabilität garantiert, indem sie es unterbindet, dass das Gehirn unkontrollierte Regungen bildet. Das Gehirn verhindert sozusagen ständig eine Massenpanik - ansonsten wären wir alle Epileptiker.
Kann sich das Gehirn durch Erfahrungen verändern?
Das Gehirn ist permanent ein anderes. Identität ist wesentlich aus Erinnerungen generiert. Diese sind im Nachhinein veränderbar und oft fantastische Selbsttäuschungen. Etwa schönfärben wir die Vergangenheit, wenn ein Erlebnis schmerzvoll war, oder vergessen irrelevante Ereignisse. Umgekehrt verändern wir unser Denken, wenn wir etwas Neues gelernt haben.
Unsere Persönlichkeit ist zu einem wichtigen Teil genetisch bestimmt - denken Sie an Zwillinge, die sich ähnlich sind, selbst wenn sie in unterschiedlichen Umgebungen aufwachsen. Dennoch kann ein Mensch seine Einstellungen gravierend ändern. Denn wie wir unseren genetischen Rahmen ausfüllen, ist eine Sache des Lernens.
Was unterscheidet das menschliche Gehirn von einer Computer-Festplatte?
Der Vergleich hinkt. Selbst der größte Rechner kann nicht leisten, was das Gehirn leistet. Ein Computer verarbeitet alles seriell - das Hirn ist dagegen hochgradig parallel. Es kann Informationen unterdrücken oder verstärken, Muster erkennen und hat eine hohe Leistung in der Kreativität - übrigens eine der härtesten Nüsse der Hirnforschung. Denn die Kreativität hat keine zeitliche Dimension. Was etwa ein Künstler tut, wenn er ein Bild malt, ist eine Synthese aus Zeit, Lebenserfahrung und Zielen. Der Moment der Kreativität kann vor der Ausführung des Bildes stattgefunden haben oder aber sich in der Ausführung erst entfalten. Wir wissen nicht, was wir wann am besten messen sollen.
Wo verzeichnen Sie eindeutige Erfolge?
Die Hirnforschung arbeitet quasi in einer Blackbox. In bildgebenden Verfahren sehen wir zwar, welche Teile mehr Sauerstoff brauchen, also aktiv sind. Aber wir sehen nicht, was genau die einzelnen Nervenzellen tun. Aus heutiger Sicht ist das eine unlösbare Aufgabe.
Jedoch haben wir verstanden, wie einzelne Nervenzellen gezielt auf bestimmte Aufgaben anspringen und darin eine überragende Funktion haben - etwa beim Treffen von Entscheidungen oder im Empfinden von Schmerz. Mit diesem Wissen können wir untersuchen, wie wir Schmerz-Reaktionen dämpfen oder rückgängig machen können.
Migräne ist eine der häufigsten Formen von chronischem Schmerz. Wann wird sie heilbar sein?
Migräne ist wahrscheinlich eine Erkrankung der Hirngefäße. Dass man die genetische Disposition dafür beseitigen kann, bezweifle ich - eine Heilung ist nicht in Sicht. Wir versuchen jedoch zu verhindern, dass sich die schmerzverstärkenden Nervenzellen einschalten, und auch sie wieder auszuschalten.
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