Von China bis in die arabische Welt zeigt sich: Die Annahme des Westens, als Modell für den Rest der Welt zu dienen, ist naiv und gefährlich. Leider.
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Auf den ersten Blick wirkt es wie ein Fall von prädementer Altersoriginalität, wenn der deutsche Altkanzler Helmut Schmidt (93) in einem Gespräch mit der "Zeit" das berüchtigte "Massaker am Platz des Himmlischen Friedens" (Peking, 1989) zu einer Art kleinem Betriebsunfall in Chinas Geschichte umdeutet, die damalige Pekinger Führung verteidigt, die im Westen geschätzte Opferzahl von 2600 für "weit übertrieben" hält und dann meint, man dürfe Chinas Politik nicht "mit europäischen Maßstäben" messen.
Man mag das befremdlich finden oder überhaupt glatt gaga. Aber in einem hat er wahrscheinlich auf eine durchaus irritierende Art recht: Die nach dem Untergang des Kommunismus 1989 naheliegend erscheinende These vom "Ende der Geschichte" und vom nahenden endgültigen und unumkehrbaren Sieg der liberalen Demokratien nach westlichem Muster dürfte sich als frommer Wunsch erweisen, nicht nur in China. Die dahinter stehende Vermutung, alle Menschen würden im Großen und Ganzen so ähnlich leben wollen wie wir, erweist sich als romantische Illusion. "Europäische Maßstäbe" taugen wirklich nur für Europa, wenn überhaupt.
In China etwa scheint auch mehr als 20 Jahre nach dem Tienanmen-Massaker das Bedürfnis der Bevölkerung, Wohlstand zu erwerben und zu bewahren, robuster ausgeprägt zu sein als die Sehnsucht nach unterschiedlichen politischen Parteien. Solange Chinas Regime weiter für robustes Wachstum und steigenden Wohlstand sorgt, dürfte der Wunsch nach einer Westminster-Demokratie in China hauptsächlich Agenda einer intellektuellen Minderheit bleiben.
Von einem Ende der Geschichte ist auch in Arabien weniger denn je zu sehen. Immer klarer wird dort, dass der "Arabische Frühling" zwar in einigen Staaten so etwas wie eine fragile Demokratie entstehen ließ. Doch erst die zeigt besonders gut, dass die Mehrheit der Bevölkerung viele westliche Werte nicht nur nicht teilt, sondern sogar verachtet: Frauenrechte, Religionsfreiheit oder wirkliche Meinungsfreiheit stehen nicht allzu weit oben auf der Agenda der meisten Wahlgewinner. Dass ausgerechnet der US-Botschafter in Libyen zumindest indirekt Opfer jener chaotischen Freiheit wurde, die Libyen mit militärischer Hilfe der USA erringen konnte, ist da eine blutige, traurige Pointe.
Und die Europäer? Die haben es nicht einmal auf ihrem kleinen, kuscheligen Kontinent geschafft, sich in zentralen Agenden auf einen "gemeinsamen europäischen Maßstab" zu einigen. Der Konflikt um die angemessene Bekämpfung der Schuldenkrise hat das mehr als deutlich sichtbar werden lassen.
Die Erkenntnis, dass die Menschen und ihre grundlegenden religiösen, kulturellen, ideologischen und ökonomischen Überzeugungen wesentlich unterschiedlicher sind und noch lange sein werden, als dies in der Euphorie der Jahre ab 1989 der Fall zu sein schien, ist eine überschaubar erfreuliche. Sie zu ignorieren hieße freilich, Entscheidungen - etwa über die weitere Rolle des Westens in der islamischen Welt - auf einer Grundlage zu treffen, die sich als irreal erwiesen hat. Da hat Schmidt schon recht.
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