Die Fortschritte seit dem Ende des Kalten Krieges sind fragil.
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Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Auf dem Campus der Central European University (CEU) in Wien diskutierten die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright, der deutsche Ex-Außenminister Joschka Fischer und Bulgariens früherer Außenminister Daniel Mitov über die Gefahr neuer Mauern 30 Jahre nach dem Berliner Mauerfall. Die Ironie ist, dass die CEU von Ungarns Premier Viktor Orban von Budapest nach Wien vertrieben wurde. Letzteres ist ein Beweis für die Fragilität der Fortschritte in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges.
Eine kurze Rückblende: Es ist der 9. November 1989 um 23.30 Uhr. Der DDR-Grenzsoldat Oberstleutnant Harald Jäger lässt an der Bornholmer Brücke die erste Sperre öffnen. Die Mauer ist gefallen. "Danach musste alles schnell gehen", so Fischer, der 1989 im Landtag in Hessen saß, bei der Podiumsdiskussion. "Denn niemand konnte sicher sein, dass Michael Gorbatschow auch am nächsten Morgen noch sowjetischer Staatspräsident und KP-Generalsekretär sein würde."
Und auch wenn alle am Podium die Wiedervereinigung - nicht nur Deutschlands, sondern letztlich Europas - zu Recht als große Erfolgsgeschichte würdigen, weisen die Diskussionsteilnehmer auch auf die Fehler hin: Zu rasche Privatisierungen, eine unzureichende Abfederung der sozialen Härten, die man den Menschen im Zuge der Transformationsprozesse zugemutet hat, und das Versäumnis, nicht nur freie Märkte, sondern auch soziale Gerechtigkeit zu schaffen.
Man hatte gehofft, der Westen würde den Osten verwestlichen, doch in mancher Weise hat der Osten den Westen veröstlicht: In vielen EU-Ländern beobachtet man eine gewisse Oligarchisierung; korrupte Praktiken, die es in den 1990ern nach dem Ende der UdSSR in Russland zur Hochblüte brachten, haben das Geschäftsleben im Westen infiziert. Man hat verabsäumt, ein schlagkräftiges und effizientes Justizsystem zu schaffen. Und wer glaubte, mit dem Ende der Sowjetunion würde auch Russlands Einfluss auf Europa enden, irrte sich. Zwar konnten viele einstige Vasallenstaaten aus dem Orbit des Kreml ausbrechen, doch er kann auf trojanische Pferde in der EU - etwa Ungarn - zählen.
Fischer hat recht, wenn er von einer vertanen Chance nach 1989 spricht - man erkannte damals nicht, dass in diesem Jahr eine geopolitische Epoche zu Ende ging. Man hätte über eine neue politische Architektur in Europa nachdenken müssen. Und schließlich hätte der Westen die Transformationsprozesse im Osten weniger aus der Perspektive von Kalter-Kriegsgewinnlern, sondern als aufrichtige, hilfsbereite Partner begleiten sollen.