Es fehlt den Allermeisten von uns an Empathie für Menschen, die außerhalb unserer eigenen Lebenswelt leben.
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Es ist alles da. Ein Großteil der österreichischen Bevölkerung hat all das, was zu einem guten Leben nötig ist. Fließendes Wasser, gutes Essen, ein Dach über dem Kopf, Wärme, Hygiene, Zugang zu Bildung, Kunst, Kultur, Musik, Unterhaltung, Denk- und Redefreiheit, Arbeit.
Dies gilt für die Allermeisten. Nur fehlt es uns, den Allermeisten, doch oft an etwas, das genauso wesentlich ist für "all das", für ein gutes Zusammenleben: Empathie. Nämlich Empathie für Menschen, die außerhalb unserer eigenen Lebenswelt leben. Verständnis für ihre Erfahrungen, Bedürfnisse und Freuden. Gehört aber nicht genau diese Empathie, dieses Verständnis, auch zu einer lebendigen Demokratie?
Um einander verstehen zu lernen, brauchen wir Zeit. Zeit ist Geld, Zeit kann aber auch ein Geschenk sein. Menschen, die sich Zeit nehmen, können ihr Wissen, ihre Begabungen, ihren Erfahrungsschatz teilen. Menschen aller Altersgruppen. Menschen, die sich ihre Zukunft erst erträumen oder ihr Leben schon eher hinter als vor sich wähnen. Menschen, deren Erkenntnisse sich in wissenschaftlichen Studien ausdrücken oder die zwischen zwei Projekten stecken oder sich eine Auszeit nehmen. Menschen, die in Arbeit untergehen und sich nach Neuem sehnen. Menschen, die auf Asyl und eine Arbeitserlaubnis warten, viel erlebt, viel zu erzählen haben. Fremde und Nachbarn, Junge und Alte, sie haben viel zu geben. Wie können wir all diesen Menschen die Strukturen zum Austausch ihres Wissens, ihrer Begabungen, ihres Erfahrungsschatzes, zur Verfügung zu stellen?
Sie beherrschen Fremdsprachen, Schach oder Bridge, haben Theorien zum Klimawandel entwickelt, kennen sich mit Hip Hop oder Oper aus, kochen ein wirklich hervorragendes Gulasch, könnten Fahrräder reparieren, Socken stricken, Hunde erziehen oder ihre ausgeprägte Liebe zur Literatur ihrer Muttersprache vermitteln. Und einen kleinen Blick in ihre Welt eröffnen.
Wie wenig wir wissen, merken wir oft erst, wenn wir überrascht werden. Wir könnten also, wissend, dass wir nichts wissen, wieder mehr zuhören, hinschauen und uns überraschen lassen. Verständnis füreinander zu schaffen ist Vorsorge gegen Ressentiments, Intoleranz, Missverständnisse aller Art, Einsamkeit. Erweitert unseren Horizont und macht uns selbst reicher.
Wie beginnen wir damit? Indem wir uns Zeit nehmen, zuzuhören. Indem wir, bevor wir annehmen, etwas über unser Gegenüber zu wissen, ihm oder ihr zutrauen, ganz anders, voller Überraschungen, Erfahrungen, Erkenntnisse zu sein.
Wie gehen wir weiter? Mit Wohnkonzepten, die das Miteinander verschiedener Bewohner fördern. Mit öffentlichen und offenen Räumen, in denen Begegnungen systematisch unterstützt werden. Mit Kulturaustausch, der sich nicht auf ein gutes Buffet und eine virtuose Band beschränkt. Mit mutigen Ideen und Projekten, im Schulbereich, im Asylbereich, im Arbeitsmarkt und noch viel mehr.
Mit einer Politik, die sich traut, ihren Wählern etwas zuzutrauen: Großzügigkeit, einen offenen Geist, Mut zu einer sich stetig und unaufhaltsam verändernden Welt.