Zum Hauptinhalt springen

Die Erfindung des E-Mail-Austrägers

Von Engelbert Washietl

Kommentare
Der Autor ist Vorsitzender der "Initiative Qualität im Journalismus"; zuvor Wirtschaftsblatt, Presse, und Salzburger Nachrichten.

Wenn der Wiener Zentralbahnhof so gebaut wird, wie er geplant ist, dann leistet sich die Stadt einen Schildbürgerstreich - und zwar gleich für mehrere Generationen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 15 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Es kann nicht bloß der aufflackernde Wiener Wahlkampf sein, der die absonderlichen Seiten des künftigen Hauptbahnhofs ins Gesichtsfeld schiebt. Dieser Bahnhof wird der größte Umschlagplatz an Reisenden sein, aber keine direkte Verknüpfung mit der U-Bahn herstellen. Das wissen wir schon, und offenbar haben sich die meisten Leute auch schon daran gewöhnt.

Nun war aus der "Wiener Zeitung" in der vorigen Woche zu erfahren, dass auch der "Cable Liner", eine Standseilbahn, der Verwirklichung einen Schritt näher gerückt ist. Dieser für Zentralbahnhöfe eher ungewöhnliche Verkehrsweg soll die Verbindung zwischen dem Bahnhof und der 300 Meter entfernt vorbeiziehenden U1 herstellen.

Vermutlich werden die Planer dieses Missing Link der Wiener Verkehrswege, das schon dem Südbahnhof fehlte, als innovativen Einfall ausgeben, versetzt es doch der terrestrischen Mobilität einen Flügelschlag.

Die Zeitungen sind derzeit zugekleistert mit dem Phänomen H.C. Strache und der Frage, wie sie den Rechtsextremismus bekämpfen können, ohne zu Wahlhelfern für Straches FPÖ zu werden. Das sind wichtige und demokratiepolitisch nötige Verhaltensweisen. Es scheint aber in Österreich möglich zu sein, jedes ideologische Getöse auszunützen, um ungehindert durch öffentlichen Widerstand abstruse Projekte voranzutreiben, die länger Bestand haben werden als im aktuellen Fall Strache und vielleicht auch die FPÖ.

Um die Funktion des Cable Liners zu verdeutlichen: Man könnte ja angesichts der noch immer störenden Lücken in der Breitbandversorgung der Internet-Surfer auf die Idee kommen, das, was zum modernen Datenverkehr fehlt - beispielsweise ein leistungsfähiges Glasfasernetz -, durch eine Art Eilbriefverfahren zu überbrücken, also einen kombinierten E-Mail-Austrägerverkehr zu erfinden. Jedermann würde sich an den Kopf greifen. Aber bei Wiens größtem Verkehrsprojekt wird Ähnliches allen Ernstes versucht und - sollte das Ergebnis doch nicht hundertprozentig befriedigen - damit verteidigt, dass beim Hauptbahnhof ja auch Busse und der D-Wagen vorbeikommen.

Ein U-Bahn-Anschluss direkt am Zentralbahnhof wäre vor allem für die ortsunkundigen Reisenden die größte Hilfe. Nicht nur wegen der vielen Vorteile des U-Bahnverkehrs, sondern auch deshalb, weil sich dieses großstädtische Verkehrssystem als einziges schematisch klar darstellen lässt. Japaner, Münchner, Londoner und Wiener fädeln sich nach logischen Prinzipien in die Verteilerkreise ein, egal wo sie gerade angekommen sind. Kein städtisches Bussystem oder Straßenbahnnetz ist dazu in der Lage. Jetzt aber auch noch ein Stück Seilbahn einzuflechten, als würden die Reisenden nicht in Wien, sondern in einer Gartenbauausstellung eintreffen, verschließt sich jedweder Logik. Und zwingt die reisenden Kofferträger einmal mehr zum Aus- und Einsteigen.

Sollte der Rechnungshof tatsächlich in der Lage sein, ein schwebendes Unheil zu verhindern, wäre das eine Großtat. Das wird aber ohne öffentlichen Druck nicht gelingen. Es geht um die Zukunft einer Stadt, die große Tradition hat, ihre Zukunft zu verbauen. Erst weigerte sie sich Jahrzehnte hindurch, eine U-Bahn zu graben. Als es endlich soweit war, glaubte sie, den Südbahnhof vor derartigen modernen Zudringlichkeiten schützen zu müssen.

Den nächsten Generationen von Menschen ein Gondelbahn-Feeling aufzuzwingen, wirkt so, als wollte man allen Weltreisenden zeigen, wo sie diesmal angekommen sind: im Disney-Land.