"Es wäre eine große technische Herausforderung. Aber wenn mir jemand 1 Mrd. Dollar gibt, um es zu tun, könnten wir es in ein paar Jahren machen", erklärte Dr. Clyde A. Hutchison, Professor für Mikrobiologie an der Universität von Nord-Karolina und Mitarbeiter am Institut für Genomforschung (TIGR) in Rockville (Maryland). "Es" - das ist die Erschaffung eines maßgeschneiderten Lebewesens aus der Retorte, und zwar der vollständige Zusammenbau eines in der Natur nicht existierenden Bakteriums, das lebt, also sich selbst erhält und vermehrt, aus Bestandteilen, die mit Hilfe der Gentechnik und Molekularbiologie künstlich hergestellt werden.
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Die "ansteckende Pleuroneumonie der Rinder" ist eine früher weit verbreitete, sehr oft tödliche kombinierte Rippenfell- und Lungenentzündung, die in vielen Regionen der Welt schon im 19. Jahrhundert ausgerottet wurde, aber in manchen Teilen Afrikas die Viehherden auch heute noch dezimiert. Der Erreger dieser Seuche wurde 1898 im Pasteur-Institut in Paris von Edmond Nocard und Emile Roux entdeckt. Die beiden schrieben damals, dass es sich um "eine Mikrobe von außerordentlicher Winzigkeit" handelt "mit Abmessungen sehr viel geringer als jene der kleinsten bekannten Mikroben".
Die Rinder-Bakterien hängen bei ihrer Vermehrung zuerst aneinander und bilden so lange wellenlinienförmig gewundene, verzweigte Fäden, bevor sie in kugelförmige Einzeller zerfallen. Da sie dabei Pilzfäden (Hyphen) ähneln, gab Prof. Julian Nowak von der Universität Krakau (1922 polnischer Ministerpräsident) dem Bakterium 1929 den Namen "Mycoplasma" (griechisch: mykes, Pilz; plasma, Gebilde). Die Mycoplasmen haben keine feste Zellwand wie andere Bakterien, sondern nur eine verformbare Membranhülle. Daher werden sie jetzt zur "Klasse" Mollicutes (Weichhäuter) des Bakterienreiches gerechnet.
Im Jahre 1961 wurde entdeckt, dass Mycoplasmen auch den Menschen befallen. Es zeigte sich, dass mehr als ein Dutzend Arten von ihnen Krankheiten der Atemwege, des Harn- und Genitaltrakts und der Gelenke hervorrufen können. Sie sind gegen Zellwände angreifende Antibiotika wie Penicillin oder Cephalosporin unempfindlich, können aber mit anderen Antibiotika (Tetracyclinen, Makroliden) behandelt werden.
Im Jahre 1981 wurde bei zwei Engländern mit einer nichtgonorrhoischen (nicht durch Tripper hervorgerufenen) Urethritis (Harnröhrenentzündung) ein neues Mycoplasma entdeckt und Mycoplasma genitalium getauft. Dieser sexuell übertragbare Keim ist mit 3 Zehntausendstel mm Durchmesser nicht nur das kleinste bekannte Bakterium, sondern das kleinste Lebewesen überhaupt. (Viren sind zwar meist noch kleiner, aber sie sind keine selbständigen Lebewesen, sondern werden nur im Inneren befallener Zellen "lebendig".) Die Mycoplasma-genitalium-Zelle enthält das Minimum an Ausstattung, die für die Existenz eines Lebewesens und für die Vermehrung (durch Zellteilung) erforderlich ist: Eine Hüllmembran, Ribosomen (Werkzeuge für den Zusammenbau von Proteinen) und ein die Gene (Proteinbauanleitungen) enthaltendes ringförmiges DNS-Molekül. Das sind auch die Grundbestandteile zur Schaffung eines künstlichen Bakteriums.
In "Nature Genetics" vom Juni 2000 erschienen drei Artikel über die wahrscheinliche Anzahl der Gene im menschlichen Genom. Während zwei Forschergruppen zu ähnlichen Ergebnissen kamen - 28.000 bis 34.000 Gene die eine und 35.000 die andere -, gelangte das dritte Team auf eine Anzahl von 120.000. Wer recht hat, wird sich erst in etwa drei Jahren herausstellen, wenn alle drei Milliarden "Buchstaben" (Basenpaare) des menschlichen Genoms ausgeforscht sein werden. (Inzwischen werden Wetten auf die Anzahl angenommen - die Bedingungen findet man im Internet unter www.ensembl.org/genesweep.html.)
Das kleinste Genom aller Lebewesen - rund ein Fünftausendstel des menschlichen Genoms - hat jedenfalls Mycoplasma genitalium. Es besteht aus 580.070 Basenpaaren. Ihre Sequenz (Aufeinanderfolge) wurde von 29 US-Forschern, darunter auch Hutchison, ermittelt. Insgesamt 470 Gene wurden identifiziert, von denen 374 schon vorher von anderen Lebewesen bekannt waren. Für die restlichen 96 fanden sich keine Gegenstücke in anderen Organismen. Inzwischen wurde die Gesamtanzahl auf 480 korrigiert. Die Forscher konnten auch angeben, welche Aufgaben die einzelnen Gene innerhalb des Organismus erfüllen - zum Beispiel die Schaffung der Zellmembran, die Zellteilung, die Energiegewinnung, den Stoffwechsel, die Vermehrung, den Stofftransport innerhalb der Zelle usw.
Im November 1996 veröffentlichten sechs Molekularbiologen aus Heidelberg in "Nucleic Acids Research" das Genom von Mycoplasma pneumoniae, einem etwas größeren Bakterium, das eine Lungenentzündung verursacht. Es besteht aus 816.394 "Buchstaben" und 677 Genen. Nun war es also möglich, die beiden Mycoplasma-Genome miteinander zu vergleichen. Dabei zeigte sich, dass alle 480 Gene von M. genitalium in dem größeren Genom von M. pneumoniae enthalten sind. Wie man sieht, eröffnete die Entschlüsselung vieler Genome, nicht nur von Bakterien, sondern auch von höheren Lebewesen, den Weg zu einer neuen Ära der Biologie: Die "vergleichende Genomik" ermöglicht es, die Funktionen und die Entwicklung von einzelnen Genen, Genfamilien und ganzen Genomen und die Beziehungen der Lebewesen untereinander auf einer neuen Grundlage zu erforschen und zu verstehen.
Die starke Reduzierung der genetischen Information der Mycoplasmen wird auf ihre parasitische Lebensweise zurückgeführt. Die Versorgung mit Nährstoffen durch ihre unfreiwilligen "Wirte" (Menschen, Tiere, Pflanzen) und die gleichmäßige, schützende Umgebung im Inneren ihrer Opfer ermöglichte es ihnen während der Evolution, auf viele Gene zu verzichten. Die derzeit vorherrschende Annahme ist, dass sich die Mycoplasmen aus normalen Bakterien durch Verlust von für sie nicht mehr notwendigen, überflüssigen Genen (zum Beispiel für die Zellwand) und Beibehaltung nur der für ihr Überleben wesentlichen Gene entwickelten. Allerdings fehlen ihnen umgekehrt Gene für ein Überleben ohne ihre "Gastgeber".
Hutchison, der Medizinnobelpreisträger (1978) Hamilton O. Smith und sechs weitere Mitarbeiter des Instituts für Genomforschung fanden eine Methode, um festzustellen, ob wirklich alle übereinstimmenden Gene von M. genitalium und M. pneumoniae für das Überleben nötig sind: Wie sie in "Science" vom 10. Dezember 1999 schreiben, veränderten (mutierten) sie nacheinander durch Einfügen eines "springenden" DNS-Stückes, eines sogenannten Transposons, jeweils ein Gen, und schalteten es dadurch zumeist aus. Wenn das Bakterium trotz des Verlustes dieses einen Gens weiter lebte, war das betreffende Gen offensichtlich nicht lebenswichtig. Am Ende blieben 265 bis 350 unentbehrliche Gene übrig, ohne die es nicht geht; davon haben 111 eine unbekannte Funktion und sind für die Wissenschaft total neu. Das ist also das "minimale Mycoplasma-Genom".
Molekularbiologen können Gene künstlich herstellen, sie zusammenbauen, entfernen und einfügen - darauf beruht ja die Gentechnik. Allerdings wurden ganze Genome eines Lebewesens durch Zusammenfügen von DNS-Stücken noch nicht fabriziert. Ribosomen und Zellmembranen können ebenfalls angefertigt oder aus der Natur genommen werden. Zusätzlich sind aber auch Enzyme (chemische Werkzeuge) und andere nichtgenetische Bestandteile (Proteine, Fette, Zucker) nötig, damit es zu einem Stoffwechsel und zur Zellvermehrung kommt. Und außerdem muss man wissen, wie man das alles zu einem funktionierenden Ganzen vereinigt. In der Theorie gibt es aber keine unüberwindliche Hürde bei der Erschaffung eines künstlichen Bakteriums.
The Institute for Genomic Research (TIGR) hat die erste Phase des Minimal-Genom-Projekts - die Bestimmung der für ein künstliches Lebewesen notwendigen und ausreichenden Gene - durchgeführt. Doch wie steht es mit der zweiten Phase - der Zusammensetzung eines Bakteriums aus seinen Bestandteilen? Hier die Antwort von Prof. Clyde A. Hutchison an den Autor dieses Artikels, in der er die anfangs zitierten Aussprüche etwas abschwächt: "Wir haben noch nicht begonnen, einen lebenden Organismus von Grund auf zu synthetisieren. Wir verstehen in Wirklichkeit das Mycoplasma noch nicht gut genug, um damit anzufangen. Wir wissen nicht, wie lange es dauern würde. Mit der jetzigen Technik würde es sicherlich sehr teuer und schwierig sein."
Es ist aber anzunehmen, dass früher oder später, besonders bei TIGR, daran gegangen wird, dieses Projekt zu verwirklichen, das einstweilen nur Grundlagenforschung noch ohne kommerzielle Interessen ist. Damit erhebt sich jedoch eine Fülle von Fragen: Welcher Nutzen und welcher Schaden kann durch das künstliche Bakterium entstehen? Wird hier eine Art Frankenstein geschaffen? Spielen wir Menschen Gott? Da noch nicht angefangen wurde, kann man jetzt alle diese kritischen Punkte "proaktiv" - in Voraussicht künftiger Probleme - überdenken. Das haben auf Wunsch von TIGR 15 Mitglieder der amerikanischen "Ethik der Genomik-Gruppe", Bioethiker und katholische, protestantische und jüdische Theologen, getan und ihre Erkenntnisse im gleichen Heft von "Science" veröffentlicht, in welchem auch über das minimale Mycoplasma-Genom berichtet wurde (10. Dezember 1999).
Bakterien werden heute in großem Maßstab dazu verwendet, um nützliche Produkte - von Industriechemikalien bis zu Insulin - herzustellen. Ein Minimal-Bakterium würde weniger Energie benötigen und weniger Abfallprodukte erzeugen. Anderseits könnte es unsere Gesundheit und unsere Umwelt schädigen. Schließlich könnte es möglicherweise auch als biologische Waffe verwendet werden. All diese Folgen für die Gesellschaft müssen in einem breiten, offenen Dialog genau untersucht und abgewogen werden.
Die Autoren des "Science"-Artikels "Ethische Überlegungen bei der Synthese eines Minimalgenoms" kommen aber zu der Überzeugung, dass es keine Gründe gibt, um die Forschungsarbeiten aus legitimen religiösen Erwägungen automatisch zu verbieten. Sie verletzen keine grundlegenden moralischen Gebote oder Grenzen, werfen allerdings wesentliche Fragen auf, die zu überlegen sind, bevor die Technik weiter vorwärts schreitet. "Mit Vorsicht vorzugehen erfordert, dass die Wissenschaftler in dauerndem Dialog mit der gesamten Gesellschaft stehen und mit ihr zusammenarbeiten, um die ethischen und religiösen Schlüsselfragen und Besorgnisse und Bedenken zu behandeln." Zu fragen ist, wie diese Technik für den Nutzen aller angewendet und was gesetzlich und sozialpolitisch getan werden kann, um ein solches Ergebnis zu garantieren.