Analyse: Großbritannien muss komplett umgestaltet werden - egal, wofür die Schotten stimmen.
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London. Zu Anfang dieses Sommers war in britischen Zeitungen eine Nachricht zu lesen, die vor allem älteren Briten beträchtlichen Kummer bereitete. Von neuen Umfragen war die Rede, die zeigten, dass der Stolz der Briten auf ihre nationale Identität auf ein so niedriges Maß gesunken war "wie noch nie" - vor allem unter jungen Leuten.
Wenige Monate später, im September, zeigt nicht mehr nur der Stolz auf die britische Identität Sprünge. Jetzt droht sogar schon das Objekt des Stolzes, Britannien selbst, auseinander zu fallen. Vor den Augen der Welt beginnt das Vereinigte Königreich eine erstaunliche Transformation zu durchlaufen. In seiner vertrauten Form kann Großbritannien nicht weiter bestehen. Es muss komplett umgestaltet werden - egal, wofür die Schotten heute, Donnerstag, stimmen.
Das schottische Unabhängigkeitsbegehren war es natürlich, was zu dieser Situation geführt hat. Es hat nicht nur die Schotten, sondern alle Briten gezwungen, bisher Undenkbares zu denken. Macht sich Schottland selbständig, braucht der Rest Britanniens eine gänzlich neue Identität, vielleicht eine neue Flagge, wahrscheinlich einen neuen Namen. Das Selbstbild der Briten in der Welt wird sich grundlegend wandeln müssen.
Die britische Identität spielte kaum eine Rolle
Bleibt Schottland aber, sollen ihm und den anderen Teilen des Königreichs vollkommen neue Formen regionaler und nationaler Autonomie eingeräumt werden. Dazu haben sich, um die Schotten noch zum Verbleib zu überreden, die drei großen Westminster-Parteien diese Woche feierlich und in aller Öffentlichkeit verpflichtet. Und schon jetzt beginnt dieses Gelöbnis Reaktionen auszulösen. Für kommenden Montag haben englische Nationalisten aus dem Regierungslager eine Sondersitzung des Unterhauses verlangt, in der die Gründung eines "englischen Parlaments" beredet werden soll.
In der Vergangenheit verstanden die meisten Engländer "Britisch" noch problemlos als erweiterten Begriff von "Englisch", als lockeren und einigermaßen unbestimmten Überbegriff. Jetzt werden Identitäten geprüft, werden Grenzen gezogen, werden alte Interessen neu vermessen.
Die Bande, die Britannien so lange zusammenhielten, scheinen an Kraft zu verlieren. "Das Vereinigte Königreich", hat der Historiker Sir Tom Devine kürzlich geurteilt, "erfüllt seinen Zweck nicht mehr." Nun werde wohl, klagt der schottische Autor Ian Jack, die "britische Identität nach und nach dahinwelken".
Wahr ist, dass britische Identität im Ringen dieses Sommers um Schottland kaum eine Rolle gespielt hat. Meist beschränkten sich die Repräsentanten der Union auf Drohungen, auf Untergangsszenarien für den Fall eines schottischen Ausscherens. Ein positives Bild dessen, wofür Großbritannien als Ganzes stehe und in der Zukunft noch stehen könne, versuchte kaum jemand zu zeichnen. Das mag auch dazu beigetragen haben, dass so viele Menschen in Schottland glauben, nun ganz ohne die alte Klammer auskommen zu können.
Früher einmal war es anders. Im 18. und 19. Jahrhundert dünkte die Union zwischen England und Schottland beiden Seiten noch nützlich. Industrielle Revolution und Kolonialreich sorgten für Profit und Jobs. Protestantismus, Industrie und Empire schmiedeten beide Nationen zur Allianz, zu einem erfolgreichen großen Britannien zusammen.
Seither haben industrieller Niedergang, die Auflösung des Empires und die sich leerenden Kirchen die Zweckdienlichkeit des alten Bündnisses untergraben. Die die Union bewahren wollen, verweisen nun auf neue Klammern, die sich gebildet haben. Auf die BBC zum Beispiel, auf das nationale Gesundheitswesen, auf den Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit. Selbst Schottlands Nationalisten wollen diese "soziale Union" auf den Britischen Inseln erhalten.
Briten, denen wenig mehr an der alten Größe Britanniens liegt, haben die "britische Identität" für sich immer mehr umgedeutet. Für sie bedeutet "britisch" Liberalität, Weltoffenheit, Vielfalt von Hautfarben. Ein multikulturelles, auch ein multinationales Gesellschaftswesen. Die Verteidiger dieser Werte wollen, auf andere Weise als frühere Generationen, wieder stolz darauf sein, als Briten zu gelten. Ihnen wäre begreiflicherweise lieber, wenn Schottland zu England "hielte". Aber im Strudel der neuen Ereignisse gibt es keine Garantien. Mit einem Mal ist auf den Britischen Inseln alles in Bewegung gekommen.