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Die EU 2016 - Drei Wege aus der Gefahrenzone

Von Sonja Puntscher Riekmann

Gastkommentare

Das Problem ist nicht ein Mangel an Lösungsvorschlägen, sondern der Egoismus der EU-Staaten.


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Die Finanz- und Fiskalkrise hat die Europäische Union nachhaltig verändert. Das weitgehend zwischen Regierungen durchgeführte Krisenmanagement im Ausnahmezustand hat funktioniert, aber zugleich tiefe Risse zwischen den Mitgliedern und Ungleichgewichte zwischen den europäischen Organen hinterlassen. Die Flüchtlingskrise hat sie vertieft. Brexit ist ein Symptom beider Krisen. Die Gefahr einer weiteren Erosion ist nicht gebannt.

Wege aus der Gefahrenzone gibt es, aber viele Entscheidungsträger scheinen sich eher darin einrichten zu wollen. Nationale Interessen werden unversöhnlicher denn je gegeneinander in Stellung gebracht. Da der einzige Konsens darin zu bestehen scheint, Entscheidungen auf Regierungsebene zu treffen, sind supranationale Organe als Promotoren eines gemeinsamen, wenn auch oft kleinsten Nenners machtlos. Trotzdem sind sie die Sündenböcke. Nur die EZB lässt man in großer Not und unter dem Druck der Finanzmärkte gewähren. Ansonsten wird heute wesentlich und ganz undiplomatisch in den nationalen Hauptstädten gehandelt, und erstmals in der Integrationsgeschichte erblicken wir in Deutschland, flankiert von kleineren gleichgesinnten Staaten, einen hegemonialen Akteur.

Ob absichtlich oder unabsichtlich: Berlin ist wichtiger als Brüssel. Und alle stehen stets im Bann nationaler und regionaler Wahlen, in denen Bürger, angespornt und organisiert durch neue Eliten und Parteien, die im Euroskeptizismus ihre Wachstumsstrategie erkennen, auch ein Votum über die Union abgeben. Das macht die alten integrationsfreundlichen Kräfte defensiv oder verführt sie zur Nachahmung. Dafür ist der Brexit das Lehrbuchbeispiel.

Nüchterne und redliche Faktenanalyse

Das Problem Europas ist nicht ein Mangel an Vorschlägen zur Stabilisierung der Eurozone oder zum Management der Flüchtlingskrise, das Problem Europas ist der "sacro egoismo" der Mitgliedstaaten. Dabei zeigt sich ein interessantes Phänomen: Der Verweis europäischer Eliten - ob in Regierungsfunktion oder Opposition, ob in der Wissenschaft oder den Medien - auf den Euroskeptizismus der Bürger als Hemmschuh in der Entwicklung der Union ist, wenn nicht falsch, so doch relativierbar. Haben wir also mehr ein Eliten- als ein Bürgerproblem?

Der erste Weg aus der Gefahrenzone führt über eine nüchterne und redliche Datenanalyse. Laut jüngstem Eurobarometer haben im europäischen Durchschnitt 27 Prozent der Befragten ein negatives Bild von der Europäischen Union. Hingegen haben 34 Prozent ein positives und 38 Prozent ein neutrales Bild.

Addiert man die beiden letzten Zahlen, dann erscheint die Stimmung der europäischen Bürgerschaft in einem anderen Licht. Und dann verwundert es auch nicht, dass deutliche Mehrheiten die Personenfreizügigkeit für EU-Bürger, europäische Investitionen für die Ankurbelung der Privatwirtschaft, einen europäischen digitalen Binnenmarkt, eine Energieunion oder eine starke Stimme der Europäischen Union in der Welt befürworten. Und dass trotz Finanz- und Fiskalkrise 68 Prozent der Eurozonenbürger den Euro befürworten. Alarmieren muss dagegen das relativ geringe Vertrauen der Bürger in die Institutionen. Dabei ist bemerkenswert, dass die europäischen Institutionen mehr Vertrauen genießen als die nationalen. Sollte ein Großteil des Euroskeptizimus mehr mit der Handlungsunfähigkeit der Institutionen und weniger mit einem nationalistischen Identitätskult erklärbar sein?

Regieren bedeutet auch: neue Lösungen für neue Probleme

Es ist daran zu erinnern, dass das griechische Wort "archein" sowohl "regieren" als auch "einen neuen Anfang setzen" bedeutet. Regieren hieß also immer schon, neue Lösungen für neue Probleme finden. Die Europäer haben nach 1945 genau das getan: Sie haben die vorangegangenen politischen Katastrophen durch Kooperation überwunden und sich dafür eine einzigartige institutionelle Ordnung auf supranationaler Ebene geschaffen. Danach hat die Europäische Union zweimal einen neuen Anfang gesetzt: in der Eurosklerose der 1970 und 1980er Jahre und nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums. Sie hat erstens die Vollendung des Binnenmarktes mit seinen vier Freiheiten - Euro, Unionsbürgerschaft, Grundrechteregime, neue Ansätze in der inneren und äußeren Sicherheit - und zweitens die große Erweiterung auf den Weg gebracht.

Europas Finalität in einem gewählten Konvent klären

Was sind die Fragen von heute? Wir sind global mit neuen Mächten konfrontiert, die Europas Ökonomie und Sicherheitspolitik definieren. Die neuen Mächte - China und auf ganz andere Weise die arabische Welt - haben die alten Machtkonstellationen, in deren Schatten Europa sich in relativer Ruhe entwickeln konnte, aufgebrochen. Europa kann Antworten auf die Frage, wie Frieden, Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit zu bewahren ist, nicht gegen, sondern nur in diesen Verhältnissen finden. Es ist verwirrend, dass mit zunehmender Distanz zu den Ursachen des Neuanfangs nach 1945 viele europäische Politiker wieder glauben, sie könnten Antworten im Nationalstaat entwickeln. Suggerieren die Ergebnisse der jüngsten Eurobarometerumfragen, dass die BürgerInnen offener für europäische Neuanfänge sind als ihre Eliten?

Die Europäische Union befindet sich in einem Dilemma, das durch die Asymmetrie aus liberalem Binnenmarkt mit zentralisierter Geldpolitik und fiskal- und sozialpolitischer Zuständigkeit der Mitgliedstaaten entstanden ist. Wer das Dilemma auflösen will, muss das korrigieren. Das setzt weitere Souveränitätstransfers an die Union und eine neue Arbeitsteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten in höchst sensiblen Bereichen voraus.

Eine solche Machtübertragung bedarf einer neuen demokratischen Legitimation. Das ist eine klassische konstitutionelle Frage. Sie ist heute tabuisiert in einem Diskurs, der jede Chance auf die Wiederaufnahme der Verfassungsdiskussion negiert. Doch die Bürger wollen wissen, wer mit welcher Legitimität worüber entscheidet und wohin sich die europäische Herrschaftsordnung entwickelt.

Wer vermeiden will, dass sich diese Frage an jeder Wegbiegung neu und mit offenem Ausgang stellt, muss das Grunddilemma klären. Der Vertrag von Lissabon hat mit dem Konvent ein eigenes Instrument zur Klärung geschaffen. Würde man den Konvent (zumindest teilweise) durch Volkswahlen konstituieren, müssten die Kandidaten ihre Verfassungsvorstellungen öffentlich rechtfertigen. Erst in einer transparenten Verteilung von institutioneller Macht und Ressourcen zwischen der Union und ihren Mitgliedern kann die Diskussion über das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell, über Solidarität und Kohäsion sinnvoll geführt werden.

Zur Autorin

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Buch "25 Ideen für Europa", das im Eigenverlag der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik erscheint. Kostenlose E-Book-Version unter: www.oegfe.at/25ideenfuereuropa