Multikulturelle, liberale Demokratien brauchen zum Überleben einen identitätsstiftenden Überbau. Das klägliche Versagen der EU hierbei ist ein gefundenes Fressen für Nationalisten.
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Ganze 160.000 Wörter hätte ursprünglich die EU-Verfassung beinhalten sollen, ein biblisches Ausmaß verglichen mit den 4600 Wörtern in der US-Verfassung aus dem Jahr 1787. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa scheiterte bekanntlich an den Referenden in Frankreich und den Niederlanden. Tatsächlich stand diese Blamage mehr für die Entfremdung zwischen Wahlvolk und europäischen Eliten. Schlussendlich übernahm man durch die Hintertür die wesentlichen Kernpunkte der Verfassung im Reformvertrag von Lissabon. Das "Fußvolk" wurde erst gar nicht gefragt.
Der unerwünschte Citoyen
Die historisch einmalige Gelegenheit, die Bürger am Entstehen einer europäischen Identität mitwirken zu lassen, wurde während des Europäischen Konvents von Februar 2002 bis Juli 2003 nie bedacht. Den zweifelhaften Vorgang, der sich nun rächt, fasste der damalige luxemburgische Premier und heutige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker so zusammen: "Ich habe noch nie eine derartige Intransparenz, eine völlig undurchsichtige, sich dem demokratischen Wettbewerb der Ideen im Vorfeld der Formulierung entziehende Veranstaltung erlebt. Der Konvent ist angekündigt worden als die große Demokratie-Show." Im Gegensatz zu Staaten mit einer "gewachsenen" nationalen Identität hätte die Europäische Union mühevoll über Generationen mit den Bürgern daran arbeiten müssen. Stattdessen konstruierte man Europas Selbstbild in den diskreten Hinterkammern der Diplomatie.
"Citizenship" war noch nie ein Steckenpferd der Brüsseler Eliten. Die dramatischen gesellschaftlichen Umbrüche in Europa verhalfen der populistischen Identitätspolitik zu neuen Höhen. Während rechtspopulistische Bewegungen dem völkischen Ungeist frönten, begann die europäische Linke ihre eigene Identitätspolitik zu betreiben. Erfasst von einer geradezu hysterischen Ablehnung des Westens als Ursache allen Übels, folgte eine Politik, die nach Francis Fukuyama mehr nihilistisch und relativistisch war als marxistisch. Für den klassischen Marxismus ist die Aufklärung noch etwas Positives, nun sah man in ihr nur eine weitere westliche Ideologie. Der Versuchung absoluter Wahrheiten konnte man nicht mehr widerstehen. Verbalangriffe auf christliche wie demokratische Werte, auf denen die westliche Aufklärung fußt, gehörten zum allgemeinen Repertoire, so Fukuyama. Der besessene Fokus auf Identitätsfragen führte schließlich zum aktuellen Niedergang - die Linke ist jetzt paradoxerweise weder wirklich links noch liberal.
Europas "Wertegemeinschaft"
Der Vertrag von Lissabon spricht explizit von einer "Wertegemeinschaft" und zählt auch die wichtigsten Grundpfeiler auf. Nur lässt sich weder eine nationale noch eine pan-europäische Identität einfach aus einer erschöpfenden Aufzählung von Grundwerten heraus entwickeln. Darin lag auch die große Schwäche der früheren (europäischen) Leitkulturdebatten, die davon ausgingen, dass sich eine neue Identität künstlich schaffen ließe. Es sind alles Lösungen aus der Retorte ohne Bezug zur sozialen Wirklichkeit ebenso wie Fukuyamas "nationale Bekenntnisidentität".
Das jüdisch-christliche Erbe Europas, eingebettet in die europäische Aufklärung, kann dagegen ein lebendiger wie realer Referenzrahmen für alle sein, wenn dieser nicht aus ideologischen Motiven missbraucht wird. Europas Versagen dabei, ein pan-europäisches Bewusstsein zu schaffen, spiegelt in Wahrheit das Unvermögen vieler Nationalstaaten wider, selbst eine gemeinsame Basis für eine zunehmend diverse Gesellschaft zu schaffen.
Oliver Cyrus ist freier Journalist und Publizist. Er schreibt regelmäßig zu Themen der internationalen Politik.