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Die EU-Grenzen wandern gen Osten

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv

Die besten Zeiten für den grenznahen Kleinhandel sind vorbei. Bis vor kurzem konnte ein Ukrainer tonnenweise Kartoffeln aus Polen jenseits der Grenze verkaufen. Doch dann hat die Ukraine den Wert der eingeführten Waren auf ein Zwangzigstel reduziert. Die Grenz-Beziehungen zwischen den beiden Staaten werden in den nächsten Jahren aber weit gravierenderen Veränderungen unterliegen: Bald kann der ukrainische Kartoffelkäufer nur mit einem Visum in den Westen gelangen. Denn mit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union werden die Grenzen der EU nach Osten verschoben. Und bis dahin gilt es für das Land noch etliche Vorbereitungen zu treffen, die die Nachbarstaaten wohl oder übel hinnehmen müssen.


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"Der Boden lügt nicht." Grenzkommandant Artur Big schreitet beim Übergang Korczowa den zerfurchten Erdstreifen ab. Nur Reste von Stacheldraht sind zu sehen, einige Hochstände ragen in den sich verdunkelnden Himmel. Pflöcke markieren die Ausläufer des polnischen Territoriums. Dahinter liegt die Ukraine. Dazwischen, so weit das Auge reicht, Wälder und Wiesen - und ein schmaler Streifen beackerten Erdreichs. Sollte hier jemand illegal auf die andere Seite gelangen wollen, würde er Spuren hinterlassen. Und dies würde der Boden verraten. "Kein Fußabdruck, kein verlorener Gegenstand bleibt unentdeckt", erläutert Big.

Es ist die Zeit der Wachablöse. Zwei Reiter nähern sich dem Kommandanten, erstatten Bericht: Keine verdächtigen Spuren, keine Personen zu sehen. Die Pferde bewähren sich in dem Gelände; nicht alles kann durch hochmodernes Überwachungsgerät ersetzt werden. Doch auch von letzterem erzählt Big - mit sichtlichem Stolz. Motorräder, Maschinenpistolen neuester Bauart, Nachtsichtgeräte und ein Observierungswagen mit Wärmesensor stehen den 25 Beamten auf diesem Abschnitt zur Verfügung.

Schon jetzt muss die polnische Regierung Anstrengungen unternehmen, ihren Grenzschutz auszubauen. Denn mit dem Beitritt zur Europäischen Union wird Polen auch das Schengen-Abkommen erfüllen müssen. Die Voraussetzungen dafür sollen bis 2003 gegeben sein. "Das schaffen wir", ist Bigs Vorgesetzter, Kommandant Piotr Druzdz überzeugt. Die Ostgrenze soll bis dahin "lückenlos überwacht" sein. Das Personal wurde heuer um zehn Prozent aufgestockt, die Ausrüstung mit Hilfe von EU-Förderungen modernisiert. Das Computersystem von Korczowa ist bereits "schengen-kompatibel", es braucht nur noch eingeschaltet zu werden.

Wo künftig die EU enden wird, beginnt eine Reise in die Dunkelheit. Der Kontrast könnte für AutofahrerInnen in der Nacht kaum größer sein. Der hellerleuchtete sechsspurige Grenzübergang geht auf der ukrainischen Seite auf eine Spur zusammen, eine holprige Straße führt nach Lemberg, in die Hauptstadt der Region. Die Dörfer am Weg bleiben von den Straßenlaternen unbeleuchtet, nur aus den Häusern dringen Lichtstrahlen nach draußen.

Handel der informellen Art

Die Verbindungen zwischen Polen und der Ukraine sind nicht zu unterschätzen. Sie fangen an bei Familienbesuchen - ein Grenzübergang wird beispielsweise bei religiösen Feiertagen wie Allerheiligen extra geöffnet - und gehen bis zu Handelsbeziehungen in kleinem und großen Rahmen. Zwar ist die Ukraine nicht der wichtigste Handelspartner für Polen (rund zwei Drittel des polnischen Außenhandels werden mit der EU abgewickelt, in großem Abstand folgt dann Russland), doch in Grenzgebieten gewinnt der Nachbarstaat an Bedeutung.

So auch in der Region Podkarpacie, wo die Exporte in die Ukraine jährlich rund 67 Millionen Euro ausmachen. Beide Staaten können von einem Beitritt Polens zur EU profitieren, gibt sich Jaroslaw Angerman von der Regionalverwaltung optimistisch. Eines ist dabei jedoch unabdingbar: die Wahrung offener Grenzen trotz Schengen-Abkommen. Eine Möglichkeit wäre die Schaffung einer Freihandelszone - was allerdings fürs erste nicht vorgesehen ist, da die Ukraine kein Mitglied der Welthandelsorganisation WTO ist.

Ein "Geschäftszweig" hat bereits erheblichen Schaden gelitten: der so genannte informelle Handel, der eigentlich im Rahmen der Touristik anzusiedeln wäre. Denn bis vor einem Jahr konnten aus Polen "Mitbringsel" im Wert von über 1100 Euro ausgeführt werden. "Oft waren dies recht praktische Mitbringsel", schmunzelt Angerman. Zum Beispiel Keramikfliesen. Doch meist brachten die TouristInnen Lebensmittel wie Zwiebel oder Kartoffel in großen Mengen mit. Dies war eines der Hauptargumente für die ukrainischen Behörden, den Wert der eingeführten Waren zu reduzieren - auf rund 56 Euro. Etliche "Familienbetriebe" sind dann bald vor dem Bankrott gestanden.

Zigaretten unter dem Hemd

Wie sich die Beschränkungen auf das Schmugglerwesen auswirken, können die Grenzbeamten schwer schätzen. Doch Not macht erfinderisch, auf beiden Seiten. Illegal aus der Ukraine eingeführte Zigaretten werden unter dem Trainingsanzug versteckt - und mit einfachen Tricks entdeckt. Nicht immer ist eine Leibesvisitation notwendig. Manchmal reicht es den Pass einfach fallenzulassen, erzählt ein Zöllner. Wenn sich der Besitzer runterbeugt, um das Dokument aufzuheben, kullern die Schachteln ganz von selber heraus.

Die Unbeholfenheit mancher SchmugglerInnen nimmt sich teils sogar rührend aus. Dutzende Personen drängen sich am Fußgängerübergang in Medyka, wo jährlich eine Million Menschen abgefertigt wird. Einige schmuggeln tatsächlich Waren; manche nur um sich das Haushaltsbudget aufzubessern. "Wenn sie erwischt werden, können sie einem teilweise nur leid tun", erzählt ein polnischer Lokalreporter.

Gravierenden Veränderungen wird bald der gesamte Personenverkehr unterliegen. Mit Einführung der Visumpflicht, einer wesentlichen Voraussetzung für die Erfüllung des Schengen-Abkommens, wächst die Gefahr einer Abschottung Polens gegenüber seinem östlichen Nachbarn, auch wenn dies keineswegs in der Absicht der polnischen Regierung liegt. "Wir wollen keine Signale aussenden, dass wir künftig nur westlich orientiert sind", stellte Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz klar.

Ein neuer Eiserner Vorhang würde den Beteiligten auf beiden Seite keine Freude bereiten. Daher arbeiten auch nichtstaatliche Organisationen intensiv an Vorschlägen, wie ein "Dichtmachen" der Grenzen zu verhindern wäre. So trägt ein Rapport der in Warschau ansässigen Stefan Batory Foundation den bezeichnenden Titel "Die halbgeöffnete Tür". In dem Positionspapier warnt die Stiftung vor allzu restriktiven Bestimmungen. "Der Bau einer neuen Mauer an den östlichen Grenzen der Union wäre ein Anachronismus", heißt es darin. Die Visumpflicht selbst bedeute nicht unbedingt größeren Schutz für EU-BürgerInnen. Sie werde nicht so sehr eine Barriere für organisierte Kriminalität als für tausende StaatsbürgerInnen sein.

Billig und rasch muss es sein

Um die größten Einschränkungen abzuschwächen, empfiehlt die Batory Foundation erleichterten Zugang zum Visum. Zu diesem Zweck müsste das Dokument billig, rasch und auf möglichst unbürokratischem Weg zu bekommen sein. Die Zahl der Konsulate als ausgebende Stellen müsste also erhöht, die Grenzübergänge müssten modernisiert, mehrmalige Visa in größerer Zahl ausgegeben werden.

Dass die Lösung des "Grenzproblems" mit hohen Kosten verbunden ist, wissen die polnischen und ukrainischen Behörden. Ohne Hilfe der EU werde es nicht gehen, argumentieren beide Seiten. Diese wird auch schon erteilt. So fließt ein Teil der Förderungen im Rahmen des PHARE-Programms in den Bereich der Grenzsicherung. Im Vorjahr waren knapp 40 Millionen Euro für die Modernisierung von Übergängen oder Straßen an Polens Ostgrenze vorgesehen.

Bürokratische Hürden - oft geheimnisvoller Art - sind damit noch nicht aus dem Weg geräumt. Zwar waren wir an der polnisch-ukrainischen Grenze in wenigen Minuten abgefertigt. Warum wir dann trotzdem eine Stunde gewartet haben, ist schwer zu sagen. Vielleicht hat es so lange gedauert, sechs Stempel auf ein Blatt Papier zu drücken, das uns ausgehändigt wurde. Die Bedeutung des mysteriösen Dokuments ist uns bis heute verborgen geblieben.