Europa beweist im Afghanistan-Konflikt neuerlich, dass es über keine eigene außen- und sicherheitspolitische Strategie verfügt.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Die überraschend schnell erfolgte Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist für die USA und ihre europäischen Nato-Verbündeten ein Debakel. Die Einnahme von Kabul durch die Islamisten am vergangenen Sonntag führte zu schrecklichen Szenen auf dem Flughafen, als sich verzweifelte Afghanen an startende Militärmaschinen klammerten. Viel erinnerte an das Chaos beim Abzug der USA aus Vietnam in Saigon 1975. Auch Informationen westlicher Geheimdienste, die einen Einzug der Taliban in Kabul erst im Herbst voraussagten, bewiesen die Hilflosigkeit des Westens.
Vor allem die EU-Politiker ließen sich mit der Evakuation ihres Botschaftspersonals viel Zeit. Schlimmer noch: Viele der afghanischen Mitarbeiter der westlichen Vertretungen wurden entgegen aller Versprechungen "Nobody left behind" zurückgelassen.
So hatte das deutsche Verteidigungsministerium bereits im Juni zwei Charterflugzeuge für den Transport ihrer einheimischen Helfer geordert. Weil aber Geräte zur Visa-Erteilung und Personenerkennung fehlten und man mit dem Abtransport von Bundeswehr-Soldaten aus dem Raum Kunduz beschäftigt war, wurden die Flüge storniert. Die Mitarbeiter erhielten normale Flugtickets, wobei schon bald keine Linienflüge von und nach Kabul mehr stattfanden.
Auch der Abzug britischer Truppenverbände und Botschaftspersonal verlief chaotisch. Und ihr afghanisches Hilfspersonal - bis zu 2000 Personen- wurde nicht rechtzeitig ausgeflogen, was trotz der Beteuerungen der Taliban-Führung, man werde den afghanischen Soldaten und den Helfern westlicher Mächte nichts zuleide tun, für die Betroffenen Lebensgefahr bedeutete. Britische konservative Politiker wie die Brexit-Kritiker David Lidigton und Rory Stewart kritisierten, dass von der Militärmacht Großbritannien keinerlei Versuch gemacht wurde, mit anderen Nato-Partnern eine weitere militärische Präsenz in Afghanistan zu organisieren. Vielmehr herrschte offenbar die Order "Rette sich wer kann".
Spätestens seitdem der damalige US-Präsident Donald Trump im Februar 2020 in Doha ein Abkommen mit der Taliban-Führung über einen Abzug der US-Truppen aus Afghanistan bis Mai 2021 unterschrieben hat, hätten die Europäer eine Strategie ausarbeiten- oder eben auch den Abzug ihrer Truppen samt einheimischen Hilfskräften einleiten müssen.
In der EU-Führung ist aber noch keine Strategie für das weitere Vorgehen am Hindukusch zu erkennen. Bei einem Treffen der EU-Außenminister ging es daher wie auch bei der folgenden Runde der Innenminister vorwiegend um Vorkehrungen gegen eine neue Flüchtlingswelle. Als Rezept wurden wieder – wie schon 2015 durch das Abkommen mit der Türkei – Vereinbarungen mit den Nachbarländern Tadschikistan, Usbekistan und Pakistan über Zahlungen zur Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen angeregt.
Manche Politiker, darunter Österreichs Innenminister Karl Nehammer, hielten an Abschiebungen abgelehnter afghanischer Asylwerber fest, wobei solche notfalls in Nachbarländer Afghanistans ausgeflogen werden sollten. Angesichts einer sich abzeichnenden humanitären Katastrophe, die Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan Richtung Europa treiben könnte, wirken solche nur aus innenpolitischem Kalkül getätigten Aussagen einfach nur peinlich. Auch Österreichs Regierung täte gut daran, ein Kontingent an bedrohten Afghanen – Dolmetscher oder Journalisten samt Familien – aufzunehmen. Dies entspräche auch Österreichs humanitärer Tradition in solchen Konflikten.
Die EU scheint freilich schon mit Flüchtlingen, die der belarussische Diktator Aleksander Lukaschenko nach Polen und in baltische Länder schleust, überfordert zu sein. In der Afghanistan-Krise zeigt die EU, dass sie für weltpolitische Krisen noch immer keine Instrumente zur Verfügung hat, sondern nur im Windschatten der USA, die hier auch ihre Glaubwürdigkeit als Ordnungsmacht eingebüsst hat, agieren kann.
Die EU spielt weltpolitisch noch immer bloß eine Nebenrolle. Etwa im Nahen Osten, und auch in Afghanistan. Russland und China haben das Vakuum, das die USA und die EU am Hindukusch hinterlassen haben, bereits dazu ausgenützt, um erste Kontakte zum Taliban-Emirat herzustellen.
Die EU mag durch den Kampf gegen Corona viele Kräfte gebunden haben, andere weilten offenbar auf Sommerurlaub, aber das sicherheitspolitische Unvermögen, das die EU in der Afghanistan-Krise an den Tag legte, sollte ein Weckruf sein. Die EU muss auch außenpolitisch und militärisch ein Machtfaktor werden, wenn es auf der Welt noch eine glaubwürdige Rolle- auch im Verhältnis zu Russland und China- spielen will. Sonst ist sie nur ein willenloser Zuschauer, der allenfalls nur mit Finanzhilfe in Erscheinung treten kann. Vom global payer zum global player ist noch ein weiter Weg.