Der kosovarische Premierminister Albin Kurti über den Frust wegen der Visumspflicht, Bedingungen für die Auszahlung von EU-Mitteln und Imperialismen in serbischer sowie russischer Ausführung.
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"Wiener Zeitung": Bei Ihrem Wien-Besuch hat Bundeskanzler Alexander Schallenberg Ihnen die Unterstützung Österreichs für den Kosovo zugesichert. Und aus den EU-Institutionen heißt es immer wieder, dass die Zukunft des Westbalkans in der Europäischen Union liege. Doch brauchen Kosovaren noch immer ein Visum für Reisen in die EU und erkennen fünf EU-Staaten Ihr Land noch immer nicht an. Von EU-Erweiterung generell ist keine Rede. Fällt es Ihnen zunehmend schwer, den EU-Beteuerungen zu glauben?
Albin Kurti: Wenn die Aufhebung der Visumpflicht nur von Österreich abhängen würde, wäre sie wohl schon erreicht. Wir haben alle Kriterien dafür erfüllt, und es ist mittlerweile drei Jahre, vier Monate und ein paar Tage her, dass die EU-Kommission zum zweiten Mal Visafreiheit empfohlen hat. Dass wir diese noch immer nicht haben, trifft unsere Unternehmen und Studenten hart. Es zerreißt auch Familien. Der Kosovo hat 1,8 Millionen Einwohner, aber jeder dritte kosovarische Bürger lebt nicht hier. Unsere Brüder und Schwestern wohnen vor allem in Westeuropa. Unsere Diaspora ist in erster Linie in deutschsprachigen Ländern zu finden: in Deutschland, Österreich, der Schweiz. Das Geld, das sie in den Kosovo schickt, macht drei Viertel der Überweisungen aus, die wiederum mehr als 20 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts darstellen.
Sind es noch immer Frankreich und die Niederlande, die sich gegen Visafreiheit sperren?
Ja, und wir haben Österreich gebeten, uns dabei zu helfen, uns der Aufhebung der Visumpflicht näher zu bringen. Ebenso brauchen wir Hilfe bei der Anerkennung des Kosovo durch die EU-Mitglieder Slowakei, Spanien, Rumänien, Griechenland und Zypern.
Auch dabei gibt es seit Jahren keine Bewegung. Wie groß ist der Frust der Kosovaren über die EU?
Die Menschen sind kritisch, sie sind enttäuscht, aber sie sind nicht verbittert. Doch ein Teil des Vertrauensmangels, den es in der EU uns gegenüber gibt, ist Ausdruck eines Mangels an Selbstvertrauen. Das ist ein wenig traurig. Die EU ist für mich der wichtigste politische Prozess des Friedens, der Demokratisierung und des Wohlstands seit dem Zweiten Weltkrieg.
Der Kosovo könnte in die EU mehr Selbstvertrauen einbringen?
Vielleicht. Unsere Bevölkerung ist durchschnittlich 30 Jahre alt, wir haben große Talente. Unser Wirtschaftswachstum soll heuer im zweistelligen Bereich liegen, die Steuereinnahmen sollen sich um ein Drittel erhöhen. Menschen geben mehr aus, weil sie Hoffnungen an die neue Regierung knüpfen, und weil sie dieser mehr trauen, sind sie auch bereit, mehr Steuern zu zahlen. In den ersten sechs Monaten des Jahres hatten wir den höchsten Wert an ausländischen Direktinvestitionen seit der Erklärung der Unabhängigkeit 2008.
Bei den Kommunalwahlen vor wenigen Wochen musste Ihre Partei dennoch Einbußen hinnehmen. Schwindet das Vertrauen in die Regierung?
Wir hätten uns mehr erhofft, aber Lokalwahlen sind anders als jene zum Parlament. Es ist wie beim Tennis, wo viele Spiele gewonnen werden können, aber der Satz verloren wird. Doch die Regierung ist stabil, und wir werden uns vorwärts bewegen.
Ein zentrales Versprechen Ihrer Regierung waren "Jobs und Gerechtigkeit". Wie möchten Sie Menschen die Perspektiven schaffen, die sie davon abhalten, ihre Heimat verlassen zu wollen?
Mit dem Wirtschaftswachstum wollen wir sowohl Nachfrage als auch Angebot fördern. Zum Beispiel: Wenn lokale Produzenten bei der Bank einen Kredit aufnehmen, zahlen wir 20 Prozent der Anfangssumme. Wir geben mehr Geld aus für Mütterkarenz und Kinderbeihilfe. Die öffentlichen Universitäten sind kostenfrei, und wir haben die Zahl der Stipendien erhöht, vor allem für Frauen. Im Justizbereich wollen wir die Aktivität der Staatsanwaltschaft und die Effizienz der Richterschaft erhöhen. Im Kosovo gibt es an die 200 Staatsanwälte und 450 Richter, aber die einen sind nicht sehr aktiv, und die anderen nicht sehr effizient. Das wollen wir ändern.
Das hört die EU gern, dennoch löst sie ihre Versprechen gegenüber den Reformern in Südosteuropa nicht ein. Verliert sie den Westbalkan?
Ich glaube nicht, aber der Enthusiasmus schwindet. Ich denke, dass der Westbalkan und die EU sehr wichtig füreinander sind. Kosovo ist im Herzen des Balkans. Es ist das einzige Land in der Region, das nicht an einen EU-Staat angrenzt. Wenn es gemeinsam mit den anderen Westbalkan-Staaten - vielleicht im Jahr 2030, 2035 - der Union beitritt, würde das auch deren Sicherheit dienen. Die EU-Außengrenze wäre dann an die 3.000 Kilometer kürzer. Die EU sollte auch nicht erlauben, dass der Westbalkan zu einem Schlachtfeld für andere Akteure wird.
Ist er das nicht bereits? Russland und China üben ihren Einfluss aus, die Türkei versucht es ebenfalls.
Für den Kosovo gilt: Die EU ist unser Schicksal, und Europa ist unser Kontinent. Wir suchen nicht nach Alternativen. Doch sollten EU-Werte und -Mittel Hand in Hand gehen auf dem Westbalkan. Rechtsstaatlichkeit, Demokratisierung, Vergangenheitsbewältigung, Minderheitenrechte - all das sollte an EU-Geld geknüpft sein. Wenn etwa Autokraten geholfen wird, die es der Opposition unmöglich machen, Wahlen gewinnen zu können, richtet sich das gegen die EU.
Sie sprechen von Serbien?
Dort hat die Opposition keine Chance, weil sie systematisch zerstört wurde.
Wenn schon von Serbien die Rede ist: Wann wird es wieder Fortschritte im Dialog zwischen Prishtina und Belgrad zur Normalisierung der Beziehungen geben?
Die bisherigen Fortschritte waren keine echten. Denn der Elefant im Raum, von dem nicht die Rede ist, ist die gegenseitige Anerkennung. Diese sollte nicht endlos aufgeschoben werden, sondern ein zentraler Punkt bei einem Abkommen sein. Verständnis für Serbien aufzubringen, dass es den Kosovo nicht anerkennt, ist für niemanden von Vorteil.
Die EU ist an den Gesprächen beteiligt. Wie agiert sie?
Es ist schwierig, neutral zu sein zwischen Anerkennung und Nicht-Anerkennung. Auch Serbiens außenpolitische Haltung ist problematisch: Das Land will zwischen den USA und China sein, zwischen der EU und Russland. Brüssel sollte Präsident Aleksandar Vucic zeigen, dass dies inakzeptabel ist, statt es als Tatsache hinzunehmen und nach neuen Kompromissen zu suchen.
Sie ziehen gerne eine Parallele zwischen Serbien und Russland.
Es gibt Parallelen, auch wenn Jugoslawien in einem Krieg zerfallen ist und die Sowjetunion friedlicher. Doch das Ergebnis ist ähnlich: Hier ist nun Russland mit seinen Tentakeln Weißrussland, Donbass in der Ukraine, Südossetien und Abchasien in Georgien. Und da ist Serbien mit der Republika Sprska in Bosnien-Herzegowina, serbischen Parteien in Montenegro, einigen illegalen Verwaltungsstrukturen im Kosovo und der serbisch-orthodoxen Kirche in der gesamten Region. So wie Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion zu einer großen Krake wurde, wurde Serbien zu einer kleinen. Es geht dabei nicht mehr um Besetzung, sondern um eine gewisse Kontrolle auf einem anderen Territorium, um dieses zu destabilisieren.
Es gibt nicht nur große Imperialismen, Serbien war eine kleine imperialistische Regionalmacht. Um die Analogie zwischen Serbien und Russland weiterzuführen: Die Republika Srpska ist wie Weißrussland, und Montenegro soll in die Ukraine verwandelt werden. Ich bin beunruhigt wegen der Aufrüstung: Serbien gibt doppelt so viel für sein Militär aus wie die anderen fünf Westbalkan-Staaten zusammen.
Beruhigt Sie da die Nato-Präsenz im Kosovo?
Die Truppenstärke wurde immer weiter verringert, aber die Nato wird wohl fürs Erste da bleiben. Wir wollen ja auch der Nato beitreten, ebenso wie der EU. Serbien aber, denke ich, will weder da noch dort Mitglied sein. Es will EU-Geld ohne EU. Wenn es der Union beitreten würde, müsste es viele Reformen durchführen.
Zur Person~ Albin Kurti ist seit März Premier des Kosovo. Seine erste Regierung war im Vorjahr nach wenigen Wochen abgesetzt worden. Im Februar hat aber seine linksnationalistische Partei Vetevendosje (Selbstbestimmung) klar gewonnen. Angetreten ist sie mit einem Programm der Erneuerung: Kampf der Korruption, Rechtsstaatlichkeit, Schaffung von Jobs.