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"Die EU ist unsere größte Hoffnung"

Von Gerhard Lechner

Politik
Ungleiche Machtverhältnisse am Markt überschatten die Theorie der rationalen Entscheider, meint Lisa Herzog.

Die Philosophin Lisa Herzog über Vor- und Nachteile des Liberalismus und das wackelige Primat der Politik.


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"Wiener Zeitung": Frau Herzog, in Ihrem Buch "Freiheit gehört nicht nur den Reichen" haben Sie für einen "zeitgemäßen Liberalismus" plädiert. Ist der gegenwärtige Liberalismus denn unzeitgemäß?

Lisa Herzog: In gewissem Sinne ja. Der Liberalismus wurde lange Zeit extrem individualistisch verstanden, als etwas, bei dem es nur um Freiheit und Märkte - oder: um die Freiheit der Märkte - geht. Die ökonomischen Theorien, die diese Sicht der Dinge begründeten, sind aber nicht besonders realistisch. Ich habe in meinem Buch vorgeschlagen, Liberalismus viel breiter zu denken.

Inwiefern sind diese Theorien Ihrer Meinung nach nicht realistisch?

Diese Theorien gehen davon aus, dass Menschen ausschließlich rationale Wesen sind, dass sie immer so entscheiden, wie es ihrem Interesse entspricht, dass sie also sehr gut in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Gleichzeitig hieß es aber auch, dass Menschen sehr egoistisch seien, dass sie sich überhaupt nicht um das Wohlergehen anderer kümmern würden, dass ihnen die Gesellschaft als Ganzes eigentlich egal sei. Beide Positionen sind unrealistisch. Es gibt inzwischen zahlreiche Studien über die menschliche Natur, aus denen wir wissen, dass dem nicht so ist.

In den letzten Jahrzehnten hat der Liberalismus als sogenannter Neoliberalismus eine von manchen kritisierte, von manchen beklatschte Wiederauferstehung gefeiert. Dieser Neoliberalismus hat sich in dem alten Gegensatz Individuum versus Kollektiv auf vielleicht radikale Weise auf die Seite des Individuums - in dem Fall: des freien Unternehmers - gestellt. Die britische Premierministerin Maggie Thatcher sprach in einem geflügelten Wort sogar davon, dass es so etwas wie eine Gesellschaft eigentlich gar nicht gebe. Welche Haltung würde Ihr "zeitgemäßer Liberalismus" hier einnehmen?

Er würde davon ausgehen, dass es Individuen gibt, die bestimmte schützenswerte Rechte haben. Aber ihm würde auch klar sein, dass Menschen in soziale Strukturen eingebettet sind. Wenn man diese Strukturen berücksichtigt, stellt sich die Frage nach der Freiheit des Einzelnen anders. Auch Wirtschaftsstrukturen können die Freiheit des Einzelnen bedrohen. Wir müssen den Einzelnen also nicht nur vor einem allzu starken Staat schützen, sondern auch vor wirtschaftlichen Strukturen, die ihn unfrei machen.

Vor welchen zum Beispiel?

In der Arbeitswelt gibt es viele ungleiche Machtverhältnisse, die die Theorie der rationalen Entscheider auf dem freien Markt unrealistisch werden lassen.

Wenn nun aber wieder der Staat eingreift, um diese ungleichen Machtverhältnisse auszugleichen - landet man dann aus liberaler Sicht nicht automatisch wieder beim Sozialismus?

Da gibt es schon sehr viele Abstufungen. Und auch in einem Minimal- und Nachtwächterstaat gibt es ja Strukturen, die einen Einfluss auf die individuellen Lebensverhältnisse haben. Es ist ganz einfach keine Situation vorstellbar, in der es gar keinen staatlichen Einfluss gibt, zumindest keine wünschenswerte. Die Frage ist nur, wie ist der staatliche Einfluss gestaltet und wem kommt er zugute. Manche Liberale befürworten einen völlig unregulierten freien Markt und setzen das mit Freiheit gleich. Wenn man eine solche Politik umsetzt, ist das Ergebnis oft, dass diejenigen Akteure, die wirtschaftlich stärker sind, sehr viele Freiräume bekommen auf Kosten derjenigen, die weniger Möglichkeiten haben.

Mit der Finanzkrise kam auch wieder vermehrte Kritik am sogenannten Kapitalismus auf. Was ist das eigentlich, Kapitalismus?

Die klassische Definition ist, dass im Kapitalismus das Eigentum an den Produktionsmitteln privat ist und nicht staatlich organisiert. So, wie wir Kapitalismus heute leben, heißt das auch, dass Kapital international mobil ist, während die demokratischen politischen Strukturen weitgehend national organisiert bleiben. Da stellt sich dann die Frage nach dem Machtverhältnis zwischen Wirtschaft und Politik in der heutigen Welt. Wir müssen uns fragen, wie wir erreichen können, dass das, was klassisch das "Primat der Politik" genannt wird, noch gilt, dass also die Politik die Regeln setzen kann, unter denen die wirtschaftlichen Akteure ihre Geschäfte betreiben, und nicht die wirtschaftlichen Akteure selbst bestimmen, wie die Regeln gesetzt werden.

Wie könnte das in einer globalisierten Welt aussehen?

Ich interessiere mich in letzter Zeit sehr für Modelle der Demokratisierung der Wirtschaft, bei denen demokratische, partizipative Prinzipien von unten in die Wirtschaftswelt getragen werden. Sei es in Genossenschaften, sei es mit stärkerer betrieblicher Mitbestimmung, als wir das derzeit haben. Im Englischen läuft das unter dem Stichwort "workplace democracy", also Demokratie am Arbeitsplatz. Das wäre eine andere Form der politischen Gestaltung der Wirtschaft. Sie will nicht per se das Privateigentum abschaffen, aber die Machtverhältnisse anders gestalten.

Nun gibt es aber schon auf europäischer Ebene eher wenig demokratische Strukturen, global scheint das so gut wie unmöglich. Kann es überhaupt eine globale oder auch nur europäische Demokratie geben, wenn es keinen Demos dafür gibt?

Ich denke, Demokratie kann unterschiedliche Formen annehmen. Sie kann ja auch föderal strukturiert sein und auf verschiedenen Ebenen stattfinden.

Dann wäre sie aber wieder lokal und nicht global.

Demokratie auf der höheren Ebene braucht immer auch demokratische Praktiken auf niedrigeren Ebenen. Den Glauben, dass wir nur auf der obersten Ebene Demokratie einführen müssten und alles wäre in Ordnung, halte ich für ziemlich utopisch.

Wie sieht es mit der Demokratie auf europäischer Ebene aus?

Angesichts dessen, wie sich die Weltwirtschaft im Moment entwickelt, ist die EU noch unsere größte Hoffnung! Auf europäischer Ebene gibt es immerhin gewisse gemeinsame Spielregeln und demokratische Praktiken. Das kann auch helfen, Demokratie auf anderen Ebenen zu bewahren.

Gibt es für eine europäische - und erst recht für eine globale - Demokratie nicht massive Hindernisse? Ist Demokratie in einer multiethnischen, multireligiösen Gesellschaft, wie sie sich jetzt abzeichnet, überhaupt möglich? Bis jetzt waren Vielvölkerstaaten entweder Monarchien oder Diktaturen.

Das heißt aber nicht, dass multiethnische Demokratie nicht funktionieren kann. Wir brauchen ein Verständnis davon, was es heißt, Bürgerin oder Bürger in einem Staat zu sein, der sich nicht über kulturelle oder ethnische Zugehörigkeit definiert. Bei Habermas finden wir den schönen Begriff des Verfassungspatriotismus. Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie sich über ethnische und religiöse Grenzen hinweg einbringen können, weil sie Teil dieses europäischen Projektes sind.

Lisa Herzog ist Philosophin und Ökonomin. Die 34-Jährige ist Professorin für Politische Theorie an der Hochschule für Politik in München und hat unter anderem über Adam Smith und Georg Wilhelm Friedrich Hegel gearbeitet. Sie war auf Einladung des Bruno Kreisky Forums für internationalen Dialog in Wien.