Zum Hauptinhalt springen

"Die EU ist zur besten Ausrede geworden"

Von Heike Hausensteiner

Europaarchiv

Seit mittlerweile fast zehn Jahren ist Peter Jann Österreichs Richter am Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Die "Wiener Zeitung" sprach mit ihm über die Entwicklung des mehr als 50 Jahre alten EU-Gerichtes vor dem Hintergrund der bisher größten Erweiterung der Union.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 20 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Herr und Frau Österreicher vertrauen von allen EU-Institutionen mit 58 Prozent am meisten dem EuGH, hat die jüngste Eurobarometer-Umfrage der EU-Kommission ergeben. "Das freut einen natürlich". Zumal "die Gerichte im allgemeinen den Ruf genießen, unabhängig und unbestechlich zu sein", stellt Jann "ganz nüchtern" fest. Lobbying, "das Brüsseler Alltagsgeschäft", würde in Luxemburg nicht funktionieren "und wäre auch kontraproduktiv".

Versuchte Einflussnahme schließt Jann (69), seit Herbst EuGH-"Vizepräsident", bei der heftig diskutierten Stabilitätspakt-Klage ebenfalls aus. Freilich habe man als Berichterstatter die Richter Deutschlands bzw. Frankreichs vermieden, zuständig ist nun der dänische Richter. Im anhängigen Verfahren klagt die Kommission den Ministerrat mit der Begründung, die Finanzminister hätten das Defizitverfahren gegen Deutschland und Frankreich ausgesetzt. Inwiefern die Minister tatsächlich gegen EU-Recht verstießen, darüber wird der EuGH im Eilverfahren entscheiden. Jann erwartet ein Urteil "noch vor dem Sommer".

Einen Großteil der Verfahrenszeit nehmen auch dabei die Übersetzungen in Anspruch, die am EuGH ausschließlich durch Juristen erfolgen. "Wir sind das einzige Gericht der Welt, das in elf Sprachen arbeitet - und ab Mai in 20 Sprachen." Die "quantitativ weitaus größte Erweiterung" der Union macht denn auch organisatorische, finanzielle und bauliche Änderungen am Plateau Kirchberg außerhalb der Stadt Luxemburg notwendig, um die zehn neuen Richter, Kabinette und zusätzlichen Übersetzungsdienste unterzubringen. Bei der neuen Kabinettszusammensetzung werde man neue und alte Mitglieder mischen, das sei einfach "eine Know-How-Frage". Ein "gewisses Durcheinander" werde es schon geben, so Jann, bis 2006 im Amt, diplomatisch. Dagegen rechnet er nicht damit, dass angesichts der zehn neuen Mitgliedstaaten auf den Gerichtshof eine Klageflut zukommen werde.

Know-how und Psychologie

Dass die neue EU-Verfassung am 1. Mai noch nicht in Kraft sein werde, sei kein Manko. Ihr Beschluss "wäre aber ein großer psychologischer Faktor". Durch ihre Institutionen und Funktionen besitze die Union ohnehin längst eine Verfassung, meint Jann. Zudem verweist er auf den "viel geschmähten" Vertrag von Nizza, der - 2000/2001 beschlossen und seit einem Jahr in Kraft - die EU bereits auf die Erweiterung vorbereite.

Auf die Frage, wie sich die Entscheidungen des EU-Gerichts auf die Bevölkerung auswirken, antwortet der österreichische Richter: "Bürgernähe ist zu einem Schlagwort geworden." Gerichte hätten grundsätzlich die Aufgabe, den Bürgern zu ihrem Recht zu verhelfen - "nur beim System des Gemeinschaftsrechts ist das indirekt der Fall". Mittelbare Vorteile ergäben sich etwa durch erzwungene Preisreduktionen; im Sozialrecht seien Arbeitnehmer teilweise sogar unmittelbar von Urteilen betroffen.

Dass zuletzt in Österreich die EU-Skepsis gestiegen ist, liegt laut Jann am Verhalten der Politiker - "die nichts anderes kennen, als vor den von ihnen selbst erzeugten Schwierigkeiten die Augen zu verschließen". Beispiel Transit-Debatte. Für den EU-Richter handelt es sich jedoch nicht um ein spezifisch österreichisches Phänomen. "Die EU ist zur besten Ausrede geworden. Wenn etwas klappt, waren's die Mitgliedstaaten, wenn's nicht klappt, war's Brüssel."