Der Europarechtler Walter Obwexer über die Mühen der Schotten auf dem Weg zur Unabhängigkeit.
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"Wiener Zeitung": Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon hat es eilig. Sie war schon am Mittwoch in Brüssel bei EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker - noch bevor Großbritannien überhaupt Gespräche über den EU-Austritt aufgenommen hat. Schottland will unbedingt in der EU bleiben und hat bereits ein zweites Unabhängigkeitsreferendum angekündigt. Doch dazu muss der neue britsche Premier seine Zustimmung geben. Wie schwer wird er es den Schotten machen?Walter Obwexer: Weil die Schotten völkerrechtlich kein Sezessionsrecht haben, brauchen sie für ein Referendum über die Abspaltung von Großbritannien, wie schon 2014, die Zustimmung der Regierung in London. Schottland hat aber ein rechtlich gewichtiges Argument: 2014 hat eine komfortable Mehrheit für den Verbleib bei Großbritannien gestimmt, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Schotten bei einem Staat bleiben, der Mitglied der EU ist. Ändert sich das nun, können sie geltend machen, dass sich die Umstände, unter denen 2014 abgestimmt wurde, grundlegend geändert haben. Sie können sagen: Bei uns sind fast zwei Drittel der Bevölkerung für einen Verbleib in der EU, daher wollen wir noch einmal über unsere künftige Beziehung zu London abstimmen.
Wie wahrscheinlich ist die Zustimmung aus London?
Es gibt zwar stichhaltige rechtliche Argumente, allerdings nehme ich an, dass es jetzt politisch wesentlich schwieriger wird, sich von Großbritannien zu lösen. Tritt Großbritannien aus der EU aus, wird es sich wesentlich schwerer tun, auf Schottland zu verzichten.
Das heißt, es ist mit Widerstand aus London zu rechnen?
Davon gehe ich aus. London wird wohl nicht ohne weiteres mit einem Referendum einverstanden sein und das Ergebnis einfach akzeptieren. Das wird dieses Mal wesentlich schwieriger werden.
Inwiefern kann die EU Druck ausüben, damit Schottland sein Referendum abhalten kann?
Die EU kann politischen Druck ausüben. Sie könnte etwa ein Entgegenkommen signalisieren und sich bereit erklären, in den künftigen Beziehungen zu Großbritannien mehr Konzessionen zu gewähren, wenn London einer Abspaltung Schottlands zustimmt. Das ist aber eine politische Vorgehensweise. Rechtlich hat die EU gar nichts in der Hand.
Schottland will im Binnenmarkt bleiben, also gar nicht erst austreten. Wie sehen hier die rechtlichen Rahmenbedingungen aus?
Das ist rechtlich sehr schwierig. Tritt Großbritannien aus der EU aus, tritt Schottland zunächst einmal mit aus. Sollte es Schottland gelingen, sich von Großbritannien abzuspalten, bevor es aus der EU austritt, dann wäre Schottland ein Drittstaat, also nicht Rechtsnachfolger Großbritanniens. Es müsste dann einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft stellen, und es dauert, bis dieser von allen Mitgliedstaaten ratifiziert ist. Damit wäre ein lückenloser Übergang zum Binnenmarkt als Teil Großbritanniens zu jenem als unabhängiges Schottland wohl nicht machbar. Es sei denn, die EU würde Schottland im Moment seiner Abspaltung ein Freihandelsabkommen anbieten, das eine Teilhabe am Binnenmarkt bis zum Beitritt Schottlands zur EU ermöglicht. Ein derartiges Freihandelsabkommen ließe sich schneller machen und könnte eine Übergangslösung sein.
Ist es vorstellbar, dass es für Schottland ein einfacheres Prozedere gibt als die mühevolle und zeitintensive Anfrage auf EU-Mitgliedschaft?
Da gibt es keine Lösung. Oder besser: Es gäbe eine, aber die scheidet aus. Rechtlich gäbe es folgende Variante: Schottland löst sich mit Zustimmung Londons von Großbritannien ab, wird ein eigenständiger Staat, bleibt damit in der EU und wird Rechtsnachfolger Großbritanniens. Das würde aber bedeuten, dass Schottland im UNO-Sicherheitsrat ein Vetorecht hätte und alle völkerrechtlichen Verpflichtungen Großbritanniens übernehmen müsste. Das würden aber die Briten nie zulassen - vor allem würden sie ihren Sitz im UNO-Sicherheitsrat nicht aufgeben -, und die Schotten würden nicht alle Verpflichtungen Großbritanniens, vor allem finanzielle, übernehmen wollen. Also scheidet diese rechtlich mögliche Lösung aus.
Eine EU-Mitgliedschaft Schottlands würde also Jahre dauern.
Ein vereinfachtes Verfahren sehen die EU-Verträge nicht vor. Die Verhandlungen werden sehr rasch gehen, weil Schottland - mit Ausnahme der britischen Sonderregelungen - schon einen Großteil des EU-Rechts übernommen hat. Der Beitrittsvertrag ließe sich binnen weniger Monate aushandeln. Schottland muss aber trotzdem das Genehmigungsverfahren in allen Mitgliedstaaten durchlaufen.
Der Brexit-Befürworter und Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson hat bereits selbstsicher verkündet, dass Großbritannien weiterhin Teil des Binnenmarktes bleiben werde. Ist das nicht etwas voreilig?
Das ist völlig übereilt und alles andere als sicher, weil es davon abhängt, wie weit die EU bereit ist, Großbritannien entgegenzukommen. Wirtschaftlich macht es Sinn, möglichst eng mit London zu kooperieren und die Briten am Binnenmarkt teilhaben zu lassen. Das wird aber nur gegen Zahlungen möglich sein, die wohl mehr sein müssen als fünf Milliarden Euro Nettobeitrag pro Jahr. Doch die EU will zeigen, dass Mitgliedstaaten, die die Union verlassen, keineswegs alle Vorteile behalten können, während sie die Verantwortung nicht mehr mittragen. Das wird sicherlich nicht gehen, es sei denn, London zahlt in gewissen Bereichen, etwa in die Regionalpolitik für die schwächeren Staaten, ein. Dafür reichen fünf Milliarden aber sicher nicht aus.
Großbritannien kann also nicht mit einem guten Deal nach Schweizer oder norwegischem Vorbild rechnen?
Nein. Großbritannien kann rechtlich nicht geltend machen, so behandelt zu werden wie Norwegen oder die Schweiz. Allerdings würde auch dies Gegenleistungen beinhalten, denn auch die Schweiz zahlt einige Milliarden Euro pro Jahr. Aber ein Recht darauf, so behandelt zu werden wie diese Staaten, gibt es nicht, denn Großbritannien ist in einer anderen Situation: Das Land war schon einmal in der Union, das macht den großen Unterschied.
Zur Person
Walter
Obwexer,
geboren 1965 in Brixen (Südtirol), ist Professor für Europa- und Völkerrecht an der Universität Innsbruck.