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Die EU muss am Bosporus Farbe bekennen

Von Franz Schausberger

Gastkommentare
Franz Schausberger ist Universitätsprofessor für Neuere Geschichte, Vorsitzender des Instituts der Regionen Europas und ehemaliger Landeshauptmann von Salzburg.
© privat

Für Europa ist der Ausgang der Wahlen in der Türkei von besonderer Bedeutung - egal, wie sie ausgehen.


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Der "Wunsch als Vater des Gedankens" ließ in Westeuropa wochenlang die euphorischen medialen Ankündigungen verbreiten, allen Meinungsumfragen zufolge liege der oppositionelle Kandidat Kemal Kılıçdaroglu bei den türkischen Parlaments- und Präsidentenwahlen deutlich vorne und mit einem Ende der Ära Recep Tayyip Erdogan sei zu rechnen. Wieder einmal verschloss man die Augen vor der Realität und übersah, dass damit nicht nur die Anhänger der Opposition, sondern auch jene Erdogans in einem enormen Ausmaß mobilisiert wurden. In einem Wahlkampf, der klar und einseitig die regierende AKP und den amtierenden Präsidenten bevorzugte, kam es zu einer tiefen Spaltung der türkischen Gesellschaft, die nur schwer zu schließen sein wird, wer immer letztlich als Sieger aus der Stichwahl hervorgeht.

Groß war die Enttäuschung bei der Opposition, als Präsident Erdogan nur knapp die notwendige 50-Prozent-Mehrheit verfehlte und die Regierungskoalition gar die absolute Parlamentsmehrheit erreichte. Erdogan ist nun bei realistischer Einschätzung klarer Favorit für den zweiten Urnengang.

Für Europa - insbesondere für die EU - ist der Ausgang der Wahlen in der Türkei von besonderer Bedeutung. Auch wenn die politischen Beziehungen zwischen EU und der Türkei seit Jahren im Eisfach liegen und auf ein Minimum reduziert sind, hängen sie doch in vielen Bereichen voneinander ab, insbesondere durch das Migrationsabkommen, das Millionen geflohenen Syrern, Afghanen und anderen einen Aufenthalt in der Türkei bietet und ihr dafür Milliarden Euro aus der EU garantiert. Auch die Position der Türkei im Ukraine-Krieg, das Verhältnis zu Syrien und der Streit mit Zypern und Griechenland sind für die EU von entscheidender Bedeutung.

Würde der Kandidat der Opposition die Stichwahl gewinnen, wäre wohl mit einer wesentlichen Verbesserung des Verhältnisses zur EU zu rechnen. Kılıçdaroglu hat im Wahlkampf versprochen, binnen 100 Tagen die türkische Gesetzgebung auf EU-Standard zu bringen und wieder ein demokratisches, parlamentarisches System einzuführen. Wie das mit seiner völlig inhomogenen, sechs Parteien umfassenden Nationalen Allianz, der im Parlament eine absolute Mehrheit Erdogans gegenübersteht, gelingen soll, ist freilich völlig unklar. Für viele Beschlüsse wäre eine Drei-Fünftel-Mehrheit im Parlament nötig. Das Bündnis umfasst neben der sozialdemokratischen CHP auch konservative, islamistische, pro-europäische, anti-europäische, liberal-konservative, pro- und anti-kurdische Gruppierungen.

Flüchtlingsabkommen würde in Frage gestellt

Bei einem Präsidenten Kılıçdaroglu wäre auch mit einer Freilassung politischer Gefangener, einer Zustimmung zu Schwedens Nato-Beitritt und einer grundsätzlichen Verbesserung der Kommunikation mit der EU zu rechnen. Trotzdem müssten in der EU die Alarmglocken läuten, da Kılıçdaroglu das 2016 mit der EU ausgehandelte Flüchtlingsabkommen in Frage stellen will. Die 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge im Land sollen in ihre Heimat zurückgeschickt werden, jene aus Afghanistan in den Iran, über den sie die Türkei betreten haben. Mit diesem Versprechen an die türkische Bevölkerung hat er viele Sympathisanten gewonnen.

Solche Maßnahmen würden aber vermutlich die größte Belastung im türkisch-europäischen Verhältnis bringen. Denn die Geflüchteten wollen nicht zurück nach Syrien oder in den Iran, sondern nach Europa. Und Kılıçdaroglu würde sie "ziehen lassen, wohin sie wollen". In der türkischen Syrien-Politik und im Streit mit Zypern und Griechenland unterscheidet sich Kılıçdaroglus Position kaum von jener Erdogans.

Sollte Erdogan Präsident bleiben, gäbe es wohl zwei Optionen: Entweder würde er das sehr beachtliche Abschneiden der Opposition als einen ernstzunehmenden Schuss vor den Bug erkennen und doch versuchen, durch eine etwas gemäßigtere Innenpolitik und eine Verbesserung des Verhältnisses zur EU eine weitere Spaltung und Radikalisierung der türkischen Gesellschaft zu vermeiden. Denn eines ist klar: Auch wenn sie ihre Ziele nicht erreicht hat, geht die Opposition letztlich doch gestärkt aus dieser Wahlauseinandersetzung hervor.

Oder aber Erdogan würde seinen anti-demokratischen und autoritären Kurs verschärfen, sich weiter von Europa entfernen und anderen Mächten zuwenden. Dies würde ihm bei der Bewältigung der schwersten Wirtschaftskrise in der hundertjährigen Geschichte der Türkischen Republik wohl kaum helfen, ist diese doch finanziell und wirtschaftlich maßgeblich von der Unterstützung durch die EU abhängig. Darüber hinaus könnten tausende junger, gut ausgebildeter Türkinnen und Türken das Land verlassen.

Welches Ergebnis der zweite Wahlgang auch immer bringen wird: Die EU wird wohl einmal Farbe bekennen müssen, wo und wie sie die Türkei in Europa sieht. Diese hat bereits seit 1999 den Kandidatenstatus, 2005 wurden die Beitrittsverhandlungen aufgenommen, aber 2016 vor allem aufgrund des Zypern-Konflikts sowie der Abwendung von der parlamentarischen Demokratie und den europäischen Grundwerten eingestellt. Seither liegen sie auf Eis.

Schon davor aber gab es Mitgliedstaaten, die eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU bezweifelten. Einerseits liegen nur 3 Prozent der Fläche der Türkei in Europa, andererseits würde ein Mitgliedsland mit fast 85 Millionen Einwohnern die Struktur und die Institutionen der EU beträchtlich dominieren. Man denke nur etwa an die Zusammensetzung des EU-Parlaments, die Abstimmungsmodi in den Gremien, die finanziellen Zuwendungen und so weiter. Die Entwicklung in der Türkei hat es der EU erspart, sich über deren Beitritt besondere Gedanken zu machen.

Es wäre nun fair und ehrlich seitens der EU-Staaten, mit offenen Karten zu spielen und klarzustellen, dass eine Vollmitgliedschaft der Türkei zumindest in absehbarer Zeit grundsätzlich nicht angestrebt wird, und eine Strategische Partnerschaft zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht vorzuschlagen. Damit würde sich das Verhältnis mit der Türkei, die in jedem Fall geopolitisch und wirtschaftlich für die EU von großer Bedeutung ist, wesentlich entkrampfen.