Europas Bürgerinnen und Bürger haben inzwischen mehrheitlich das Vertrauen in die EU und in deren Fähigkeit verloren, auf große Krisen effektiv zu reagieren.
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Die EU-Staats- und Regierungschefs sind diese Woche in Brüssel, um einen Weg aus der Corona-Pandemie zu erarbeiten. Der Gipfel fällt in eine Stimmung allgemeiner Skepsis, wie eine aktuelle Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) gemeinsam mit YouGov und Datapraxis ergab: Europas Bevölkerung hat inzwischen mehrheitlich das Vertrauen in die EU und in deren Fähigkeit verloren, auf große Krisen effektiv zu reagieren.
In vielen führenden Mitgliedsländern des Staatenverbunds, etwa in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Österreich, zeigt sich dies besonders augenfällig: Die überwiegende Mehrheit ist der Auffassung, dass das europäische Projekt im Zusammenhang mit Covid-19 gescheitert sei, und wünscht sich eine einheitlichere europäische Strategie zur Bewältigung globaler Probleme - und auch eine entschiedenere Haltung gegenüber chinesischen, russischen und türkischen Verstößen gegen das Völkerrecht.
Allerdings wird die Ungeduld immer größer. Bei allem Gerede von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Ratspräsident Charles Michel und anderen Mitgliedern der Führung in Brüssel zeigt sich: Die Menschen in Europa wollen, dass ihnen die EU einen Beweis für den Nutzen des europäischen Projekts bringt - und sich für die Interessen des Staatenverbunds in seinen internationalen Beziehungen einsetzt.
Mit der Rückgabe wichtiger Freiheiten - etwa, frei zu leben, zu arbeiten und zu reisen - können EU-Institutionen und -Mitgliedstaaten das Vertrauen in das europäische Projekt recht unmittelbar wieder aufbauen. Eine weitere Chance besteht darin, die Position der EU in der Welt nach Corona zu stärken. Gegenwärtig fühlen sich viele Europäerinnen und Europäer allein gelassen und befürchten Druck und Ausgrenzung durch andere internationale Mächte. In einem solchen Klima ist es kein Wunder, dass sie auf das europäische Souveränitätspferd setzen.
In gewöhnlichen Zeiten würden sie mit gutem Grund auf die USA und die transatlantischen Beziehungen zählen, um Rückhalt zu finden. Der Zustand der USA ist freilich nach der turbulenten Präsidentschaft Donald Trumps immer noch instabil. Wie die im Juni veröffentlichte ECFR-Umfrage zeigt, hat sich in Europa die Meinung über die USA seit dem Wahlsieg Joe Bidens zwar verbessert, doch überwiegt nach wie vor eine gedrückte Stimmung - denn viele europäische Bürgerinnen und Bürger sehen die USA als politisch zerrüttet und in hohem Maße als ein Land an, das die Werte oder Interessen der EU nicht teile.
Ein Vorbild in der Welt
Aber nicht nur die USA sind bei Europas Bevölkerung in Ungnade gefallen. Auch das Vereinigte Königreich wird nach dem Brexit inzwischen mehrheitlich eher als notwendiger Partner denn als Verbündeter betrachtet. Und dies gilt ebenso für andere globale Akteure wie Russland und China, was darauf hindeutet, dass die EU künftig pragmatischer in ihren internationalen Beziehungen sein muss.
Der Anspruch der Europäerinnen und Europäer ist es, dass die EU in der Welt als ein Vorbild für Demokratie und Menschenrechte auftreten soll. Diese Resonanz auf die ECFR-Umfrage - Wofür steht die EU in der Welt nach Corona? - sollte den EU-Führungskräften die nötige Zuversicht geben, schwere völkerrechtliche Verstöße hart und entschieden zu ahnden, etwa die Entführung europäischer Flugzeuge durch Belarus oder die Verfolgung der uigurischen Bevölkerung in Xinjiang. Eine Mehrheit der Menschen in Europa befürwortet auch, dass die EU ihre Verantwortung für die Verteilung von Covid-Impfstoffen erhöhen soll, entweder bevor oder sobald ihre eigene gefährdete Bevölkerung geimpft ist.
"Soft Power" wird als unverzichtbarer Bestandteil der europäischen Macht verstanden. Doch die Zeit des Redens über die Natur und die Notwendigkeit der europäischen Souveränität ist abgelaufen: Die EU muss als Global Player in Aktion treten, bevor die Bevölkerung den Glauben an diese Möglichkeit verliert. Sie steht damit wahrhaftig an einem Scheideweg. Der schleppende, chaotische Start der Impfstoffverteilung hat zwar das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der EU, was Bedrohungen für das tägliche Leben der Bürgerschaft betrifft, nachhaltig in Zweifel gezogen, doch es gibt nach wie vor mehrere Wege aus der Krise - sofern die Führungsspitze bereit ist, sie einzuschlagen. Die Europäerinnen und Europäer befürworten eine intensivere Zusammenarbeit und sehen noch immer den Wert der Mitgliedschaft ihres jeweiligen Heimatlandes in der EU. Allerdings wird ihr Bewusstsein für die gemeinsame Krisenanfälligkeit nach Corona alleine nicht ausreichen, um das europäische Projekt voranzubringen.
Die EU muss jetzt ihre Handlungsfähigkeit im Katastrophenfall unter Beweis stellen. Die ECFR-Umfrage macht deutlich, dass die Menschen in Europa mehr von der EU erwarten, was die Abwendung einer tiefergehenden Wirtschaftsflaute und die Bekämpfung des Klimawandels betrifft. Das Aufbauprogramms "NextGenerationEU" bietet der EU eine Gelegenheit, der Bevölkerung ihren Wert zu veranschaulichen. Die Genehmigung der ersten drei nationalen Vorhaben im Rahmen des 800-Milliarden-Euro-Fonds durch die EU-Kommission vorige Woche war ein erfreulicher Schritt in die richtige Richtung. Das schwindende Vertrauen in die Institutionen und die Führung der EU signalisiert, dass es keine zweiten Chancen mehr geben wird.