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Die EU muss jetzt Klartext reden

Von Walter Hämmerle

Europaarchiv

Von "islamisch" ist es in unseren Breitengraden oft nur ein kurzer Schritt zu "islamistisch". Dabei sei der Wahlsieger der türkischen Parlamentswahlen, die AKP, viel eher mit den europäischen Christdemokraten vergleichbar: Eine wertkonservative, gemäßigte Partei der rechten Mitte, meint die Türkei-Expertin Andrea Riemer von der International University Vienna im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Es liege nun an der EU, das Verhältnis mit der Türkei klar zu definieren.


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"Die Europäische Union muss bei ihrem Gipfel in Kopenhagen endlich klipp und klar sagen: Was wollen wir von der Türkei, was können wir ihr anbieten? Jetzt ist Ehrlichkeit gefragt", so Riemer.

Dabei sei keine Frage, dass die Türkei ein wichtiger Partner für Europa sei und auch bleiben werde. Nur müsse endlich geklärt werden, in welcher Form die Türkei an die EU angebunden werden soll. Dabei dürfe sich nicht alles rein um die Frage "Vollmitgliedschaft Ja oder Nein" drehen, vielmehr sei nun Kreativität von Seiten Europas gefragt. Für Riemer ist es wahrscheinlich, dass, sollte die EU auch in Kopenhagen keine klaren Aussagen zu ihrem Verhältnis mit der Türkei treffen, sich diese selbst nach Alternativen zu ihrer EU-Annäherung umschauen werde.

Jetzt ist Ehrlichkeit gefragt

Seitens der Türkei sei zweifellos der Wunsch nach einem "europäischen Weg" vorhanden, doch sei dieser - sieht man von einer zahlenmäßig geringen Elite ab - in erster Linie wirtschaftlich, nicht kulturell begründet. Hier müsse sich die EU selbst über ihr Selbstverständnis, ihre kulturelle Identität - und folglich über ihre Grenzen klar werden.

Ehrlichkeit sei auch angesichts der enormen Herausforderungen gefragt, vor denen die Türkei steht: Eine jährliche Inflationsrate von 50 Prozent, hinter Brasilien zweitgrößter Schuldner beim Internationalen Währungsfonds (IMF), 2 Prozent Bevölkerungswachstum mit stark steigender Tendenz bei 70 Millionen Einwohnern.

Auch könne heute niemand seriös sagen, was im Falle eines EU-Beitritts von Zypern mit dem türkischen Nordteil der geteilten Insel geschehe werde. Offen sei auch, ob sich das bis dato sehr gute Verhältnis zu Israel unter der neuen Regierung nachhaltig verändere.

Wahlergebnis als Katharsis

Der erdrutschartige Wahlsieg der AKP von Recep Tayyip Erdogan bietet in den Augen Riemers für die Türkei vor allem die Chance einer "politischen Katharsis", um das Land aus der Geiselhaft der alten Eliten zu befreien. Die Wähler der AKP seien jene Millionen Menschen, die durch die Korruption und das Nicht-Handeln der vorangegangenen Regierungen der linken Mitte zu den Opfern der Wirtschaftskrisen der letzten 10 Jahre wurden.

Erdogan selbst verfügt hier über eine starke persönliche Glaubwürdigkeit, hat er doch als Istanbuler Bürgermeister in den 90er Jahren mit entschlossenen Reformen die Lebensbedingungen der Menschen in den Ghettos rund um die Haupttstadt stark verbessern können.

Pragmatische Politik

Religiöse "Ausritte" der nun absolut regierenden AKP erwartet die Universitätsprofessorin für Internationale Politik dagegen nicht. Zum einen müsse auf die Interessen der Wirtschaft, vor allem aber auch der Armee Rücksicht genommen werden, zum anderen sei die Führung der AKP zum Großteil in den USA ausgebildet worden. Vieles spreche daher für eine pragmatische Politik der neuen Regierungspartei.