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Die Euphorie von einst ist verflogen

Von Walter Sauer

Politik

Zum dritten Mal in der Geschichte des Landes gehen Südafrikanerinnen und Südafrikaner am 14. April 2004 zu den Urnen. Zehn Jahre nach dem Ende der gesetzlich verordneten Rassendiskriminierung ("Apartheid") und der Amtsübernahme durch eine von Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela gebildete Regierung blickt Südafrika auf ein erfolgreiches Jahrzehnt des politischen und gesellschaftlichen Neuaufbaus zurück. Als größte Herausforderung für die kommenden Jahre gilt die anhaltende Massenarbeitslosigkeit.


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Wählen ist mittlerweile bereits Normalität im "Post-Apartheid"-Südafrika. Den ersten freien Wahlen in der Geschichte des Landes im April 1994 sind 1999 weitere Parlamentswahlen sowie insgesamt bisher zwei landesweite Runden von Gemeinderatswahlen gefolgt. Der Aufbau eines stabilen demokratischen Systems auf Basis einer neuen Verfassung, die starke soziale Grundrechte beinhaltet und sich am Grundsatz der Nicht-Diskriminierung orientiert, muss als eine der großen Errungenschaften schon der ersten, von Mandela geprägten Legislaturperiode des "neuen Südafrika" gelten.

Die in einen privilegierten "weißen" Sektor und zehn sogenannte "schwarze" Homelands fragmentierte Staatsstruktur der Apartheid-Ära gehört heute ebenso der Vergangenheit an wie Folter und Todesstrafe oder die seinerzeit endemische politische Gewalt. Neun neue Provinzen sowie zahlreiche neue Gemeinden wurden geschaffen, um bisher nach Rassen getrennte und somit unterschiedlich geförderte Zonen in integrierte Entwickungsregionen zu verwandeln. Ein Prozess aktiver Vergangenheitsbewältigung hat die Menschenrechtsverbrechen der Vergangenheit nicht unter den Teppich gekehrt, sondern in einem jahrelangen, in voller Öffentlichkeit stattfindenden Verfahren aufgearbeitet und bewertet.

Mehr als drei Millionen Hektar Land (etwa ein Drittel der Fläche Österreichs) wurden bisher im Rahmen der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Restitution von während der Rassentrennung enteignetem Grund und Boden umverteilt oder entschädigt; und an die Stelle des früher privilegierten "Europäertums" ist eine kulturelle und religiöse Vielfalt getreten, die nicht nur geduldet, sondern aktiv gefördert wird.

Sicherer Sieg des ANC

Mehr als 20 Millionen Menschen (drei Viertel aller Wahlberechtigten) haben sich für die Teilnahme an den Parlamentswahlen am 14. April registrieren lassen. Meinungsforscher stellen der bisherigen führenden Regierungspartei, dem 1912 als Bürgerrechtsbewegung gegründeten African National Congress (ANC), einen überwältigenden Wahlsieg mit landesweit bis zu 70 Prozent der Stimmen in Aussicht. Eine Wiederwahl von Mandelas Nachfolger als Staatspräsident, Thabo Mbeki, durch das neugewählte Parlament gilt als sicher. Ängsten der oppositionellen Democratic Alliance (DA), ein mit Zweidrittel-Mehrheit ausgestatteter ANC würde einseitig die südafrikanische Verfassung ändern, ist Mbeki in den letzten Wochen entgegengetreten - auch hinsichtlich seiner eventuellen dritten Amtszeit.

Ob es allerdings bei der derzeitigen Regierungskoalition des ANC mit der rechtsgerichteten Zulubewegung Inkatha Freedom Party (IFP) bleiben wird oder ob Mbeki eine Alleinregierung wird bilden können, scheint derzeit offen; nicht zuletzt das Wahlergebnis in der Provinz KwaZulu-Natal, in der die IFP eine zwar nur regionale, aber doch starke Basis besitzt, dürfte dafür den Ausschlag geben.

Während landesweit somit kaum mit Überraschungen zu rechnen ist - die Prognosen gehen deshalb auch von einer gewissen Wahlenthaltung aus - dürfte der Urnengang auf Provinzebene eher spannend verlaufen; seine Ergebnisse werden nämlich auch für die Zusammensetzung der regionalen Parlamente und somit indirekt auch für die Besetzung der regionalen Premierminister herangezogen.

Während der ANC in sieben der neun Provinzen traditionell eine stabile und komfortable Mehrheit besitzt und in den beiden übrigen an Koalitionen beteiligt ist, verfügt die auf die ehemalige Apartheidpartei zurückgehende New National Party (NNP) in der Provinz Western Cape nach wie vor über erheblichen Einfluß. Auch letzten Meinungsumfragen zufolge scheint eine Eroberung der Stimmenmehrheit in der Provinz durch den ANC nicht wahrscheinlich.

Pulverfass KwaZulu-Natal

Anders gelagert ist die innenpolitische Situation in KwaZulu-Natal, der zweiten vom ANC nicht allein kontrollierten Provinz. Hier könnte der von Beobachtern für durchaus möglich gehaltene absolute Mehrheit des ANC in der Provinz von der den ländlichen Raum beherrschenden Zulu-Aristokratie als Affront gewertet und zumindest teilweise mit anti-demokratischen Mitteln beantwortet werden; schon im Wahlkampf mussten von der südafrikanischen Polizei vereinzelt Demonstrationen bewaffneter Traditionalisten gegen Mbeki aufgelöst werden.

Trotz der im Verlauf des Wahlkampfs zugespitzten Rhetorik zwischen dem ANC und den beiden kleineren Parteien werden somit letztendlich die regionalen Wahlergebnisse entscheiden, ob bzw. zu welchen Koalitionen es in diesen zwei Provinzen kommt.

Angesichts des Umstands, dass die verfassungsmäßig vorgesehene Neuwahl des Parlaments mit dem zehnjährigen Jubiläum des Endes der Apartheid zusammenfällt, hat der African National Congress seine Wahlkampagne naturgemäß unter eine weithin positive Bilanz der ersten "Post Apartheid-Dekade" gestellt. Neben der demokratischen Stabilisierung der Anfang der 1990er Jahre krisengeschüttelten Republik am Kap und den bereits erwähnten Maßnahmen der gesellschaftspolitischen Transformation standen dabei vor allem die vom ANC eingeleiteten Programme zur Armutsbekämpfung im Vordergrund: Die Versorgung von fast vier Millionen Haushalten in vernachlässigten städtischen und ländlichen Regionen mit Elektrizität und sauberem Trinkwasser, die Errichtung von fast 500 neuen Gesundheitsstationen in entlegenen Gebieten, der Bau von über einer Million neuer Wohneinheiten (was allerdings nur ein Zehntel des geschätzten Bedarfs darstellt) sowie die kostenlose Versorgung von Schulkindern mit einer täglichen Gratismahlzeit.

Problem Arbeitslosigkeit

Kontrastierend zu diesen von kaum jemandem bestrittenen Leistungen rückte in den vergangenen Monaten das ungelöste Problem der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit ins Zentrum der Debatte und spielte auch im Wahlkampf eine wichtige Rolle. Sie wird auf 30 bis 40 Prozent geschätzt. Zwar ist die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze im formellen Wirtschaftssektor außerhalb der Landwirtschaft in der abgelaufenen Legislaturperiode duchaus gestiegen (am stärksten im Dienstleistungssektor), doch hat sich dieser Zuwachs als für eine Senkung der Arbeitslosigkeitsrate ungenügend erwiesen.

Zwar halten alle politischen Parteien sowie die drei großen Gewerkschaftsverbände des Landes die Situation für besorgniserregend, die Einschätzungen der Ursachen dafür gehen freilich weit auseinander. Während der ANC vor allem auf das bevölkerungspolitisch bedingte Nachdrängen starker jugendlicher Gruppen auf den Arbeitsmarkt hinweist, kritisiert die wirtschaftsliberale Democratic Alliance (DA) die vom neuen Arbeitsrecht verstärkte Stellung der Arbeitnehmer/innen auf dem Arbeitsmarkt und spricht von "Überregulierung". Linke Kritiker der Regierung wiederum, wie sie sich vor allem in den Gewerkschaften, aber auch unter weißen Intellektuellen finden, weisen auf den in Mbekis erster Amtsperiode verstärkt zum Tragen gekommenen neoliberalen Charakter so mancher Maßnahme der südafrikanischen Wirtschaftspolitik hin.

Tatsächlich haben Anreize für ausländische Investoren die Weiterführung der schon in den letzten Jahren der Apartheid eingeleiteten Privatisierung sowie die Liberalisierung des Außenhandels gemäß den Spielregeln der Welthandelsorganisation (WTO) nicht im gewünschten Ausmaß gegriffen; während langfristige und beschäftigungsrelevante Auslandsinvestitionen nur in geringem Ausmaß getätigt wurden, floss Kapital in großem Umfang ab, teils (nach der Amtsübernahme Mandelas) aus politischen Gründen, teils im Rahmen der Auslandsinvestition südafrikanischer Konzerne (nicht zuletzt im Bergbau-, Papier- und Bierbereich). Ökonomisch erwies sich die südafrikanische Exportwirtschaft in vielen Bereichen als zu wenig konkurrenzfähig und dem europäischen Protektionismus im Agrarbereich nicht gewachsen; Auch der von großen Erwartungen begleitete Freihandelsvertrag mit der EU fiel für die südafrikanische Wirtschaft enttäuschend aus.

Staatspräsident Thabo Mbeki hat in den letzten Monaten die Weichen daher wieder zugunsten eines keyesianistischen wirtschaftspolitischen Kurses gestellt. Begünstigt durch Südafrikas merklich gesunkene Auslandsverschuldung soll nun das Tempo der Privatisierung gebremst, sollen die Außenhandelsbeziehungen mit wichtigen Ländern der Dritten Welt wie Brasilien, Indien oder China stärker ausgebaut werden. Ein gewaltiges Programm öffentlicher Arbeitsbeschaffung soll in den kommenden Jahren eine Million an neuen Arbeitsplätzen schaffen, die Infrastruktur soll ausgebaut, die Budgets für Bildung, Soziales und Gesundheit erhöht und effizienter eingesetzt werden. Dies inkludiert auch die von Mbeki jahrelang abgelehnte Verwendung von Generika zur Bekämpfung der HIV/Aids-Epidemie.

Letztlich wird erst eine spürbare Verbesserung des sozialen Lebensniveaus der Bevölkerung die Nachhaltigkeit von Südafrikas demokratischer Transformation absichern können. Darin liegt die schwierigste Herausforderung für die zweite Dekade Südafrikas nach der Apartheid.

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Walter Sauer ist Univ. Prof. für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Vorsitzender des Dokumentations- und Kooperationszentrums Südliches Afrika (http://www.sadocc.at).