Warum die EU nicht mehr "Solidarität" braucht, sondern weniger permanenten Rechtsbruch.
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Wenn am Sonntag in Brüssel wieder einmal darüber diskutiert wird, wie Asyl und Migration in Europa neu aufgestellt werden sollen, kommt sie so sicher wie das Amen im Gebet: die Behauptung, Italien und Griechenland seien seit Beginn der jüngsten Völkerwanderung "von den anderen Staaten im Stich gelassen worden". Das Argument klingt überzeugend: Ihrer geografischen Lage wegen sind die beiden südlichen EU-Staaten eben das Tor für die Migranten nach Europa. Logischer Schluss daraus: Die anderen EU-Staaten müssten sich deshalb, erraten, "solidarischer" zeigen - zu Deutsch: viel mehr Migranten nach Norden und viel mehr Geld nach Süden schaffen.
Nun spricht grundsätzlich ja wirklich nichts dagegen, dass die EU-Staaten ihre Außengrenze gemeinsam schützen. Aber: In den Schengen-Verträgen steht klar, dass jedes Land an einer Außengrenze - wie etwa auch Italien und Griechenland - diese wirksam gegen illegale Zuwanderung schützen muss. Muss, und nicht soll oder kann oder nur dann, wenn es leicht geht. Nun ist nicht anzunehmen, dass der griechischen oder der italienischen Regierung beim Unterschreiben dieser Verpflichtung ihre eigene Geografie nicht klar war. Noch ist glaublich, dass den anderen EU-Staaten dies nicht geläufig war.
Nicht die EU hat deshalb Italiener und Griechen im Stich gelassen, sondern sie haben - anders als etwa die Ungarn - die EU im Stich gelassen, indem sie unterließen, wozu sie rechtlich verpflichtet waren und sind. Wenn Italien und Griechenland auf Dauer nicht willens oder nicht imstande sind, endlich konsequent zu tun, wozu sie verpflichtet sind, und gleichzeitig kein schneller und effizienter gemeinsamer Schutz der Außengrenzen zustande kommt, wird sich daher die Frage stellen müssen, ob diese Staaten eigentlich weiter im Schengen-Raum verbleiben können. Sonst wird nämlich die ohnehin schon schwerbeschädigte grenzenlose Reisefreiheit in der EU endgültig Geschichte sein.
Sichtbar wird hier ein Konstruktionsmangel der EU. Denn natürlich war, als Schengen vereinbart wurde, allen Beteiligten klar, dass Italien oder Griechenland im Ernstfall daran scheitern würden, die Verträge einzuhalten. Doch um das politische Ziel zu erreichen, die Grenzen innerhalb der EU öffnen zu können, wurde eine Illusion namens "Sicherung der Außengrenze" in die Verträge geschrieben. Es war der gleiche Fehler wie bei der Schaffung des Euro. Um das ambitionierte Ziel einer Einheitswährung zu erreichen, wurden jene Maastricht-Verträge etwa zur Begrenzung der staatlichen Verschuldung geschlossen, die seither dutzende Male gebrochen worden sind. Auch hier wurde am Altar der schnellen europäischen Integration eine Illusion errichtet, die angesichts der ersten gröberen Finanzkrise genauso platzte wie die Schengen-Illusion angesichts der Migrationskrise. Daraus kann man zumindest eines lernen: künftig zentrale EU-Verträge entweder durchsetzbar und einklagbar zu gestalten - oder im Zweifel darauf zu verzichten. Maßnahmen, die das Leben jedes Einzelnen in Europa spürbar ändern, wie die Gemeinschaftswährung oder die offenen Grenzen, auf Basis bloßer Versprechen oder Absichtserklärungen zu beschließen, hat sich bis jetzt als keine besonders gute Idee erwiesen.