Will Europa noch wachsen, muss es sein Potenzial künftig besser ausschöpfen.
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"Wiener Zeitung": Sind Sie besorgt, dass Europa eine lange Phase mit wenig oder sogar ganz ohne Wachstum drohen könnte?Riccardo Perissich: Es gibt mehrere strukturelle Gründe, warum es Europa nicht schafft, ein höheres Wachstum zu erreichen. Einer ist die Demografie: Wir sind eine Gesellschaft, die schrumpft und das nur teilweise mit Zuwanderung kompensieren kann, weil es uns schlecht gelingt, diese Menschen zu integrieren. Zudem haben wir unflexible Arbeitsmärkte, zu viel Regulierung und eine Besteuerung, die auf der Arbeit und Produktivität lastet.
Was können wir dann erwarten?
Deutschlands Minister Wolfgang Schäuble hat sehr pointiert formuliert, dass sich Europa keiner Illusion hingeben sollte: Es seien keine hohen Wachstumsraten in Sicht, sondern wir sollten einen ausreichenden Grad nachhaltigen Wachstums anstreben. Das ist ein hochinteressanter und sehr deutscher Gedanke: Die Deutschen denken immer auf lange Sicht voraus, wodurch die Gegenwart zur Episode wird. Man könnte dagegenhalten, wenn man mitten in einem Sturm ist, zählt vor allem die kurzfristige Perspektive. Aber man sollte es ernst nehmen, weil dieser Zugang den Deutschen gute Dienste geleistet hat.
Was kann Europa für mehr Wachstum unternehmen?
Wir müssen unser geringes Wachstumspotenzial steigern. Selbst wenn man dem Rat von Paul Krugman (US-Nobelpreisträger, Anm.) folgt und massiv Geld in die Wirtschaft pumpt, würde das rasch an der Wand des geringen Potenzialwachstums abprallen. Steigern können wir dieses nur mit Strukturreformen.
Will man das nicht auf sozial und politisch inakzeptable Art tun, braucht es Zeit. Und es ist anfangs schmerzhaft und teuer. Ein gutes Beispiel ist Deutschland, das massive Reformen im Übergang von Kanzler Schröder auf Merkel durchgesetzt hat. Das hat lange gedauert, aber sich mit Wachstum und Arbeitsplätzen bezahlt gemacht. Auf mittlere Sicht müssen wir uns mit wenig Wachstum abfinden - etwas anderes ist die Rezession, aus der wir rasch rauskommen müssen.
Die Arbeitslosigkeit erreicht in Europa unterdessen Rekordwerte . . .
Ich bin skeptisch, ob wir das Problem kurzfristig lösen können. Dieses ist sehr ungleich verteilt: Deutschland hat historische Tiefstände und Spanien extrem hohe Arbeitslosigkeit. Aber Achtung: Spanien hat traditionell eine hohe Arbeitslosigkeit. In manchen Ländern wie Italien ist die Arbeitslosenrate gar nicht so wichtig - zum einen, weil Schwarzarbeit eine so große Rolle spielt, zum anderen, weil die Beschäftigungsrate viel wichtiger ist: Italiens Schwäche ist, dass zu wenige Frauen und Jugendliche überhaupt am Arbeitsmarkt teilnehmen, diese sind nicht einmal arbeitslos gemeldet. Das müssen wir ändern.
Wie entwickelt sich der Binnenmarkt in der Krise?
Tendenziell begünstigen Krisen Protektionismus, weil jeder Staat die Arbeitsplätze im Land absichern will. Deshalb ist es positiv, dass es in Europa keinen großen Rückschlag gegeben hat - mit zwei Ausnahmen: Wegen der Finanzkrise erlebt der schon sehr weit europäisierte Bankensektor eine Renationalisierung.
Und eigentlich sollte die europäische Industrie parallel zum Binnenmarkt restrukturiert und global wettbewerbsfähig werden. Das ist in Sektoren wie Rüstung, Airlines, Telekom nur unvollständig passiert, weil die Konsolidierung aus politischen Gründen verhindert wurde - siehe die abgeblasene Fusion von EADS und BAE.
Werden Unternehmen zu groß, nimmt der Wettbewerb aber Schaden. Wie lässt sich das verhindern?
Das ist die permanente Herausforderung. Wie bewertet man die Wettbewerbsvorteile großer Unternehmen, wenn diese auf lange Sicht schädlich für die Verbraucher sein können, weil sich Monopole herausbilden? Dafür gibt es keine generelle Theorie. Der Markt entscheidet über Erfolg und Misserfolg, dann müssen die Wettbewerbsbehörden ihren Job machen. Unsere Welt dreht sich so rasch, dass man nicht antizipieren kann, was passiert.
Zu meiner Zeit in der Kommission war IBM das Monster, das die Welt dominieren würde. Wo ist IBM jetzt? Google hat es vor 10 oder 15 Jahren noch gar nicht gegeben und das ist heute ein dominanter Konzern.
Wie können kleine Unternehmen mit den üppigen Regelwerken des Binnenmarktes fertigwerden?
Die EU wird sehr oft von Unternehmen des Regulierungswahns bezichtigt, die gar nicht über ihre lokalen Märkte hinausgehen wollen. Es stimmt schon, dass Europa dazu tendiert, alles so zu behandeln, als wäre es ein multinationaler Konzern. Wie löst man das?
Ein Beispiel: Will man absolut sicheren Käse produzieren, ist der Geschmack dahin. Die Franzosen behaupten mit Recht, einige der besten Käsesorten zu produzieren. Und immerhin, die französische Gesellschaft wächst, so gefährlich kann ihr Käse nicht sein.
Sie kritisieren die Subventionen in der Agrarpolitik. Wollen Sie diese ganz abschaffen oder zu erneuerbarer Energie umleiten?
Die gemeinsame Agrarpolitik war von Beginn an verzerrt und liegt kaum jemandem am Herzen - außer den Bauern. Frankreich gilt etwas zu Unrecht als Schuldiger. Das Land, das hohe Preise wollte, war Deutschland. Die deutsche Landwirtschaft hätte mit deutlich niedrigeren Preisen nicht überlebt. Die Agrarstruktur bewegt sich nun langsam zu rationaleren Strukturen.
Ich glaube, es wäre nicht gesund, wenn Europa seine Strategie bei erneuerbarer Energie auf Subventionen aufbaut. Die USA haben sich in ein fürchterliches Chaos manövriert, indem sie ihre Energiestrategie (bei Agrartreibstoffen, Anm.) auf die Landwirtschaft aufgebaut haben. Dadurch ist der Getreidepreis zu einem Treibstoffpreis geworden. Das ist nicht gesund. Es gibt Argumente, Sonnenenergie zu unterstützen, wegen der hohen Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Aber ich sehe keinen Grund, Windanlagen zu subventionieren, die völlig konkurrenzfähig sind.
Österreichs Landwirtschaft wäre ohne Hilfen nicht lebensfähig . . .
Das ist das Dilemma. Aber seien wir realistisch: Bioproduktion allein wird den Bedarf nicht decken und um die Landfläche und die Bauern zu bewahren, braucht man Subventionen. Wir sollten also eine geschützte Landwirtschaft erhalten. Mir als Liberalem gefällt das nicht besonders, aber so ist nun einmal die Lebensrealität.
Wie geht es mit Europa weiter?
Wir sind nicht wie die Vereinigten Staaten von Amerika, sondern haben uns entschlossen, die Union graduell zu entwickeln. Die geniale Idee von Jean Monnet (Europas Gründervater, Anm.) war, dass wir einen ständigen Fluss gemeinsamer Entscheidungen brauchen, damit die Integration fortschreitet. Damit alle Nationen dabei gleichwertig sein können, muss Macht an eine unabhängige Institution übertragen werden - als Schiedsrichter hat sich die Europäische Kommission herausgebildet. Dieses System hat uns gute Dienste erwiesen, aber jetzt werden wir Opfer des Erfolges: Weil die Integration fortschreitet, kommen wir immer näher zum Kern nationaler Souveränität.
Wie sieht die EU in 20 Jahren aus?
Wahrscheinlich wird die Basisarchitektur ungefähr gleich bleiben. Ein Problem wird aber akut, das es vor 20 oder 30 Jahren nicht gab: die demokratische Legitimierung. Die einzige Struktur, die wir dafür haben, ist das Europäische Parlament, in all seiner Unvollkommenheit. Die Abgeordneten sollten schon jetzt nachdenken, wie sie bei der Wahl 2014 einen Flop vermeiden. Deutsche Politiker sprechen jetzt oft von der politischen Union. Sie erklären zwar nicht, was sie meinen, ich würde das aber nicht wie die Briten als bloßes Gimmick abtun. Deutschland wollte schon beim Maastricht-Vertrag mehr erreichen, wurde aber von den Franzosen zurückgewiesen. Das war ein Fehler, weil die Währungsunion in eine Schieflage geriet und die politische Dimension gegenüber der monetären zu schwach war. Das muss jetzt korrigiert werden - schwierig, mitten in der Krise.
Zur Person
Riccardo
Perissich
war 24 Jahre in der Europäischen Kommission tätig, zuletzt als Generaldirektor für den Binnenmarkt und Industrie. Der Italiener koordinierte die Umsetzung des Binnenmarkt-Weißbuchs und ist Autor von "Die Europäische Union, eine inoffizielle Historie".