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Wenn nicht bald ernsthaft etwas gegen Nationalismus und Chauvinismus unternommen wird, droht der Organismus Europa abzusterben.
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Die europäische Krankheit scheint eine zum Tode zu werden. Es handelt sich nicht um die vielbeklagte Eurokrise, das Bankenunwesen, die teure Korruption, die militärischen Abenteuer der EU, ihre verfahrene Außenpolitik oder äußere Feinde, sondern um den wachsenden Ungeist von Nationalismus und Chauvinismus, der sie fatal schwächt und alle beschworenen Prinzipien und Ziele ad absurdum führt.
Und zwar nicht nur in südlichen Ländern, wo Sündenböcke vom eigenen Versagen ablenken, so wie jüngst der strafrechtlich verurteilte, aber munter weitermachende Silvio Berlusconi den Bösen aus dem Sack zog, nämlich Deutschland, das auf ewig schuldig bleiben muss und zahlen soll - egal, wie die Rechnung aussieht. Die Aushebelung dessen, was den Rechtsstaat nach westlichen, europäischen Maßstäben auszeichnet, belegt in den jungen EU-Ländern Ungarn, Rumänien und Bulgarien, dass der alte Ungeist undemokratischer Regime ganz tief verankert und eingraviert ist. Es ist Schlimmstes zu befürchten, alles unter dem Mantel der tödlich erkrankten Union, die die europäische Krankheit tabuisiert und wegzureden, gesundzubeten versucht, was natürlich nicht funktioniert.
Aber es war kein Möchtegern-Diktator aus dem Osten oder Süden, der die höchste Aufregung erzeugte, sondern der Regierungschef einer alten, ehrwürdigen Demokratie, die zwar von Anbeginn eine gewisse Reserviertheit gegenüber Europa und eine Ablehnung einer politischen Union zeigte, aber trotzdem irgendwie als Mitglied mitmachte. Großbritannien musste, eher übel als wohl, die geänderten Realitäten nach dem Zweiten Weltkrieg schmerzlich zur Kenntnis nehmen. Aber der pragmatischen Politik folgte kein Mentalitätswandel. Die Briten fühlen sich immer noch als die Herren, die sich mit den Gemeinen auf dem Kontinent nur so weit einlassen, als es ihnen selbst dient, auch auf Kosten Europas.
Zwar warnen realistische Geschäftsleute und unerschrockene Politiker, doch der Schachzug des Premiers, die EU-Mitgliedschaft in einem Referendum zur Abstimmung zu bringen, spricht eine deutliche Sprache. Es könnte sein, dass die anderen EU-Mitglieder den Briten wieder Spezialzugeständnisse machen, die Ungleichheit zementieren und belohnen, auch wenn sie dies dann daheim ihren Elektoraten nicht vernünftig erklären könnten.
Nicht, dass David Camerons Kritik nicht berechtigt war. Aber sein Kalkül, die eigentlichen Beweggründe, sind unlauter und europafeindlich. Er beweist den Ungeist von Chauvinismus und irrationalem Nationalismus und stärkt damit die grassierende europäische Krankheit.
Der kranke Organismus Europa, der sich ein Parlament ohne die legislative Macht eines echten Parlaments hält und neben der bestimmenden Kommission einen demokratisch nicht kontrollierten Rat, wird zusammenbrechen, wenn nicht sofort konkrete Gesundungsmaßnahmen erfolgen, wenn kein Besinnen auf Europa einsetzt. Das einstige Friedenswerk, das Wagnis, ein Europa über die engen, bornierten Nationalgrenzen hinweg zu bilden, ist letal verletzt und droht draufzugehen. Trotz Friedensnobelpreis.