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Die Europäisierung der Gesetzgebung

Von Waldemar Hummer

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Waldemar Hummer ist Universitätsprofessor für Europa- und Völkerrecht an der Universität Innsbruck. Foto: privat

Die Frage der "Europäisierung" der nationalen Gesetzgebung in den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird völlig unterschiedlich gesehen.


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Seit der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors im Juli 1988 in einer Rede vor dem Europäischen Parlament prognostizierte, dass in zehn Jahren "80 Prozent der (nationalen) Wirtschaftsgesetzgebung, vielleicht auch der steuerlichen und sozialen, gemeinschaftlichen Ursprungs sein könnten", wird in der einschlägigen Literatur über die wahre Bedeutung dieser mehr als kryptischen Aussage gerätselt. Dabei herrscht sowohl ein quantitativer als auch ein qualitativer Ansatz vor. Zum einen wird die Aussage des "gemeinschaftlichen Ursprungs" nationaler Normen dahingehend interpretiert, dass in einer quantitativen Analyse festgestellt werden soll, wie viele Normen gemeinschaftsrechtlicher Provenienz in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen enthalten sind.

Diesbezüglich galten Ende 2008 in jedem Mitgliedstaat - und damit auch in Deutschland - 10.279 EU-Normen (29 Verträge, 2036 Richtlinien und 8214 Verordnungen), denen 2391 deutsche Bundes- und Landesgesetze gegenüberstanden. Setzt man nun die europäische und die deutsche Ebene gegenseitig in Beziehung, dann ergibt sich daraus ein Verhältnis von 81 Prozent, was genau dem "80-Prozent-Mythos" Delors entspricht.

Auch einer Studie des deutschen Bundesministeriums der Justiz (2007) zufolge stammten in den Jahren 1998 bis 2004 mehr als 84 Prozent aller deutschen Gesetze und Verordnungen aus Brüssel und nur noch 16 Prozent aus Berlin.

Einige deutsche Politologen stellten in diesem Zusammenhang sogar fest, dass die Europäisierung der Gesetzgebung des deutschen Bundestages von 1976 bis 2005 - vor allem in den Politikbereichen Umwelt und Landwirtschaft - noch über diesen Prozentsatz hinausging. Eliminiert man allerdings die über 5800 europäischen agrar- und fischereiwirtschaftlichen Normen, reduziert sich das Verhältnis auf - noch immer beachtliche - 65 Prozent. Diese Kennzahlen scheinen auf einen dramatischen Wandel der (National-)Staatlichkeit der EU-Mitgliedstaaten im Sinne einer schleichenden Aushöhlung deren Gesetzgebungsautonomie hinzudeuten.

Des Weiteren wurde daraus auch geschlossen, dass dieser massive Eingriff in die nationalen Rechtsetzungsstrukturen die mitgliedstaatlichen Machtressourcen der Mitgliedstaaten zugunsten der Exekutive umverteile und damit das staatliche Gewaltenteilungssystem beeinträchtige.

Qualitative Analyse

Zum anderen wird der "gemeinschaftliche Ursprung" der nationalen Gesetzgebung in qualitativer Hinsicht aber auch so verstanden, dass darunter nur diejenigen mitgliedstaatlichen Normen verstanden werden, die mehr oder weniger direkt europarechtlich induziert sind, das heißt auf einen gemeinschaftsrechtlichen "Impuls" zurückgehen. Verantwortlich für diese "Europäisierung" sind vor allem Richtlinien mit einem Anteil von 44,1 Prozent, gefolgt von Verordnungen mit 18,5 Prozent und Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften im Umfang von 5,5 Prozent.

Diese politikwissenschaftlichen Studien wiederum geben Entwarnung und stellen fest, dass der 80-prozentige Anteil europäischer Normen am nationalen (Wirtschafts-)Recht eindeutig überzogen ist und lediglich 25 bis 40 Prozent der deutschen Gesetzgebung europarechtlich bedingt sind. Je nachdem, welcher Schauweise man sich anschließt, variieren daher die Ergebnisse dieser aufwendigen empirischen Untersuchungen deutscher Politologen. Zitiert man diese aber, sollte man seriöser Weise immer angeben, um welche der beiden Prämissen es sich dabei eigentlich handelt.