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"Die Eurozone ins Gleichgewicht bringen? Vergessen wir es!"

Von Hermann Sileitsch und Konstanze Walther

Wirtschaft
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Baustelle Eurozone: Norden und Süden brechen zusehends auseinander.
© corbis

Ausgleich zwischen Norden und Süden kann nur via Transfers funktionieren.


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"Wiener Zeitung": Ungleichgewichte gelten als Hauptursache für die Krise. Werden diese durch die Krisenbekämpfung noch verstärkt, oder bewegen wir uns allmählich auf mehr Ausgeglichenheit zu?

Peter Spahn: Manche sagen, die Wettbewerbsfähigkeit und das Preisniveau seien zwischen Süd- und Nordländern um 20 bis 30 Prozent auseinandergetrieben. Diese Lücke muss man schließen. Solange es Ausgleichsmechanismen gibt, ist das kein Problem - der klassische, der Wechselkurs, steht aber nicht zur Verfügung. Über die Löhne könnten auch Unterschiede abgebaut werden. Ob die Einkommen im Norden wie in Deutschland steigen oder im Süden, etwa Spanien, sinken, das wäre an sich egal. Die Deutschen wollen aber nicht mehr als 2 Prozent Inflation akzeptieren und die anderen Länder keine Lohndeflation. Die Folgen sind Jugendarbeitslosigkeit und langfristig steigende Auslandsverschuldung.

Georg Vobruba: Schon 1961 haben Ökonomen formuliert, was bei einer Währungsunion zu erwarten ist - entweder eine Angleichung der Produktivitätsniveaus, Migration von Arbeitskräften oder Sozialtransfers von den Reicheren zu den weniger Reichen. Mit dem Euro entstand aber für knapp zehn Jahre die Illusion, die Bonität der Länder auf dem Kapitalmarkt sei in etwa gleich. Entweder es wurde geglaubt, die gemeinsame Währung wirke als Produktivitätspeitsche, oder es wurde die "Nichtbeistandsklausel" ignoriert, so nach dem Motto: "Die hauen die armen Länder schon raus." Aus Sicht der Gläubiger hatten wir schon in den Nuller-Jahren eine Transferunion in Form einer Rückzahlungsillusion: Das billige Geld ging in jene Länder und dehnte dort den monetären Verteilungsspielraum vollkommen unzumutbar aus. Der Schönheitsfehler: Das Geld kommt nie wieder zurück.

Warum konnte das so lange Zeit funktionieren?

Vobruba: In einem Satz: Dieser Mechanismus war für alle Beteiligten von Vorteil . . .

Spahn: Kurzfristig.

Vobruba: Kurzfristig, natürlich. Für Länder wie Deutschland, weil sie exportieren konnten. Für Importländer, weil Regieren leichter geht, wenn der Verteilungsspielraum größer ist. Diejenigen, die dafür bezahlt haben, waren - plakativ gesagt - die deutschen Facharbeiter: Die mussten niedrigere Löhne in Kauf nehmen, als es eigentlich der Produktivitätsdifferenz entsprochen hätte. In den Nettoexportländern haben wir jetzt einen Suchteffekt, das kann man nicht so einfach umdrehen.

Von außen betrachtet ist die Leistungsbilanz der Eurozone im Lot. Was ist somit das Problem? Dass es Zweifel an der Solidarität gibt und trotz Europäischem Stabilitätsmechanismus (ESM) und EZB-Rettungsaktionen nicht mehr darauf vertraut wird, dass die Armen "rausgehauen" werden?

Spahn: Der Fehler war, dass man in der Eurozone an die "gute Verschuldung" geglaubt hat: dass Länder sich wie ein guter Hausvater nur verschulden, um mit dem Geld etwas Produktives zu machen. Die Hypothese war, dass Spanien, Irland, Portugal, Griechenland einen Kapitalstock aufbauen, mittelfristig zu höherer Produktivität kommen und so die Schulden zurückzahlen.

Vobruba: Mein Eindruck über produktive Investitionen in Portugal ist gespalten. Die U-Bahn in Lissabon ist wunderbar, dass nach Porto zwei Autobahnen nebeneinander führen, weniger. Auch in Griechenland mit seinen überdimensionierten Häfen war einfach zu viel billiges Geld da.

Warum hat das niemand erkannt?

Spahn: Große Ökonomen haben Anfang der Nullerjahre einen gewaltigen Integrationsschub für die Südländer vorhergesagt. Kritische und zynische Ökonomen haben gewarnt: "Das geht aus wie in Südamerika." Wenn man den Leuten zu leichten Zugang zu billigen Krediten gibt, wird das Geld auf gut Deutsch versoffen, es geht in den Konsum. Nach fünf oder zehn Jahren bleibt nur der Jammer. Die Bevölkerung sagt: "Wir Schulden rückzahlen? Wir haben kein Geld!" Sie haben nicht gemerkt, dass sie dieses konsumiert haben, und protestieren verständlicherweise. Das schafft politischen Unfrieden: Der Mann auf der Straße in den Südländern sieht die hohe Jugendarbeitslosigkeit und empfindet die Verpflichtung, das Geld zurückzuzahlen, als Anmaßung. Wie so oft in der Wirtschaftsgeschichte wird sich der Hass auf den Gläubiger zeigen - das ist selten friedlich ausgegangen.

Ökonomen fachsimpeln über "interne Abwertung" - in der Debatte fehlen aber die Menschen, die Lohnkürzungen nicht einfach hinnehmen. Oder es gibt die Idee, sie müssten bei Wahlen die richtige, eurofreundliche Entscheidung treffen.

Spahn: Was absurd ist.

Vobruba: Von den Leuten zu verlangen, dass sie sich politisch und ökonomisch nach den Maßgaben zur Herstellung eines Gleichgewichts verhalten, ist eine irre Idee. Auch die deutsche Wiedervereinigung war eine Währungsunion: Von einem Tag auf den anderen war die DDR mit einer Währung konfrontiert, die ihrer Ökonomie überhaupt nicht entsprach. Was waren die Folgen? Gigantische Unternehmenszusammenbrüche und eine bis 2017 anhaltende Mega-Transferunion.

Am Ende der DDR waren die Menschen aber von dem System angefressen und ein hoher sozialer Kredit ging in Richtung Transformation. Am Ende der stabil funktionierenden Eurozone war in Griechenland oder Portugal niemand unzufrieden. Warum auch? Die Situation war komfortabel, das Konsumniveau ganz gut. Deshalb wird das Gegensteuern nie im Leben funktionieren. Das muss man akzeptieren: Es gibt Probleme, die sind nicht lösbar.

Es ist also aussichtslos, ein ökonomisches Gleichgewicht in der Eurozone herstellen zu wollen?

Vobruba: Vergessen wir es!

Spahn: Entweder es gibt die angesprochene Transferlösung oder der Norden muss periodisch seine Gelder, die er in den Süden geschickt hat, abschreiben. Über den ESM ist der Norden praktisch Garantiegeber - wenn der Süden die ESM-Kredite nicht zurückzahlt, muss der Norden seine eigene Bevölkerung belasten, um in die Bresche zu springen. Kriegen die Politiker im Norden das hin? Stellt sich die Kanzlerin oder der Bundesfinanzminister vor den Bundestag und sagt: "Wir gehen an eure Ersparnisse, weil die Italiener ihre Schulden nicht zurückzahlen." Was das politisch bedeutet! Das ist ein Normenkonflikt mit ungeahnter Sprengwirkung.

Vobruba: Jede Wette, wir bekommen so etwas wie eine Sozialtransferunion mit maximaler Unsichtbarkeit.

Inflation und Lohnkürzungen bewirken dasselbe: Die Kaufkraft sinkt. Das eine wird kaum bemerkt, beim andern hagelt es Protest.

Spahn: Richtig. Als es den Wechselkurs gab, kam es auch zu Anpassungen, aber die Bevölkerung hat davon nichts bemerkt. Italien hat wiederholt die Lira abgewertet, um Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen, und ist dadurch ärmer geworden. Jetzt muss man darüber verhandeln, etwa über Lohnkürzungen. Anpassungsprozesse, die über den Markt gingen, sind jetzt politisiert. Und das geht immer schief. Wir durchleben ein historisches Experiment.

Wie könnte dieses ausgehen?

Spahn: Der günstigste Ausgang wäre: Wenn Länder ESM-Hilfen nicht zurückzahlen können, bauen die Gläubigerländer bilaterale Forderungen auf: 30- bis 50-jährige Kredite, die am Ende wie Reparationsforderungen gestrichen werden. Selbst das wäre nur ein Einmaleffekt, die Wettbewerbsfähigkeit der Eurozone geht aber beständig auseinander.

Vobruba: Die Idee "lieber ein Ende mit Schrecken" funktioniert auch nicht. Die Ausstiegsszenarien sind unplausibel. Der Grundirrtum ist, dass - wenn man die Südländer loswürde, was rechtlich nicht geht - keine Zahlungsverpflichtungen auftreten würden. Man hängt zusammen; das ist in einer integrierten Welt so und in der EU noch ein bisschen mehr.

Alle Alternativen zur Sparpolitik landen früher oder später bei der Zentralbank als "Deus ex machina", die Geld drucken soll. Was wären da die Kollateralschäden?

Spahn: Vor fünf Jahren waren alle froh, dass wir die Zentralbanken entpolitisiert haben. Jetzt sind sie sehr rasch Teil des politischen Systems geworden. Es wäre aber naiv zu glauben, EZB-Chef Mario Draghi trifft Entscheidungen, weil ein rotes Telefon klingelt und ein Anruf aus Rom kommt. Er denkt wie ein Notenbanker: Was muss ich tun, damit das System stabil bleibt? Für den Aufkauf von Staatsanleihen gibt es die Ausrede, dass andere das auch machen. Man weiß nicht, ob Draghi die Konditionalität aufrechterhalten kann, nur dann Anleihen zu kaufen, wenn ein ESM-Programm steht - man diskutiert schon, ob man die Bedingung lösen könnte.

Vobruba: Die Position der Zentralbank hat sich massiv geändert. Alle Welt weiß, dass sie im Moment die einzige krisenpolitisch handlungsfähige Instanz ist. Das ändert sich nur, wenn die politische Integration so weit getrieben wird, dass die EZB von diesen Ausgaben entlastet wird. Wer weiß, ob das überhaupt geht.

Besteht die Gefahr, dass die fundamentalste wirtschaftliche Währung, das Vertrauen, zerstört wird?

Spahn: Die Geldwertstabilität wird im Moment noch nicht angezweifelt. Ich weiß aber nicht, wie lange das aufrechtzuhalten ist.

Vobruba: Schauen wir einmal.

Peter Spahn, geboren 1950 in Essen, hat seit 1992 den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre an der Universität Stuttgart-Hohenheim inne. Der Geldpolitik-Experte ist Gründungsmitglied der Keynes-Gesellschaft.

Georg Vobruba, geboren 1948 in Wien, ist seit 1992 Professor für Soziologie an der Universität Leipzig und Autor des Buchs "Kein Gleichgewicht. Die Ökonomie in der Krise".

Georg Vobruba und Peter Spahn waren im Rahmen der "Alpbach Talks", einer Kooperation zwischen Europäischem Forum Alpbach und "Wiener Zeitung", in Wien.