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Die Volkspartei sucht eine neue Parteileitung, aber auch ein wenig sich selbst. Wieder einmal.
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"Die Österreichische Volkspartei ist keine bürgerliche Partei". Das steht nicht in einem Leitartikel, nicht in einem Twitter-Posting, nicht in einer Aussendung der Neos. So steht es in den "Grundsätzen und Zielen der Österreichischen Volkspartei", herausgegeben vom Generalsekretariat der ÖVP im Jahr 1949. Das ist zwar eine Ewigkeit und drei Tage her, doch das Buch liegt immer noch griffbereit im Eingangsbereich im Generalsekretariat auf. Die "Wiener Zeitung" schmökerte darin vor einem Interview mit Laura Sachslehner diesen April.
Nun hat Sachslehner ihre Funktion als Generalsekretärin unter anderem mit den Worten zurückgelegt, dass sie den "bürgerlichen Weg" weitergehen wolle. Was sie genau darunter versteht, argumentierte sie bei ihrer Abschiedsrede nicht ausführlich, berief sich aber auf "Werte der Volkspartei", die sie mit den Schlagworten "Freiheit, Sicherheit, Leistung" umschrieb.
Abgesehen davon, dass die ersten beiden Begriffe primär von der FPÖ für sich reklamiert werden, hat Sachslehner die ÖVP in der öffentlichen Wahrnehmung in eine Richtungsdebatte bugsiert. Wieder einmal. Denn sie konstatierte, dass die ÖVP diese Werte, die sie als bürgerlich versteht, aufgebe. Was jedoch "bürgerliche Politik" ist oder welche Werte "bürgerlich" sind, darüber wird seit vielen Jahren gestritten. Allerdings gar nicht einmal so intensiv innerhalb der Volkspartei.
Kontext ist wichtig. Der eingangs zitierte Satz steht nicht isoliert in dem von Alfred Kasamas verfassten Buch. Er findet sich im Kapitel über den Aufbau der ÖVP, deren bündische Struktur mit wenigen Adaptierung und Ergänzungen recht unverändert geblieben ist. Es ist zu vermuten, dass der Satz auch als Antwort auf Vorwürfe der politischen Mitbewerber jener Zeit zu deuten ist, denn das mehr als 200 Seiten starke Werk liest sich in einigen Passagen wie eine Replik.
"Die Österreichische Volkspartei ist keine bürgerliche Partei. Nur ein zahlenmäßig relativ geringer Teil ihrer Anhängerschaft kann mit dem Bürgertum im landläufigen Sinn identifiziert werden. Dieses ist vornehmlich im Österreichischen Wirtschaftsbund vertreten und bildet, wenn man so sagen will, den rechten Flügel der Partei. In der Mitte steht die große Masse der Bauernschaft und auf der linken Seite ein starker Block von Arbeitern und Angestellten."
Die Verschiebung des Bürgerlichen
Ein mehr als 70 Jahre altes Grundsatzprogramm kann klarerweise nicht als Bibel mit immerwährender Gültigkeit gelesen werden. Zu viel hat sich seither verändert, wie selbst aus diesen wenigen Zeilen hervorgeht. Die "große Masse der Bauernschaft" ist auf ein paar wenige Prozent der Erwerbstätigen zusammengeschrumpft. Und der Wirtschaftsbund, der in dem Buch als rechter Parteiflügel identifiziert wird, vertritt heute gesellschaftspolitisch progressivere Positionen als der Arbeitnehmerbund. Auch hat sich das Verständnis verändert, welche Gruppen "landläufig" zum Bürgertum zu zählen sind. Denn dass der ÖAAB nicht bürgerlich sei, würde dort vermutlich als Affront verstanden werden.
Dennoch steckt auch in dieser alten Schrift viel drin, das die ÖVP gegenwärtig noch prägt und das auch zum besseren Verständnis dieser zweifellos schwierigen Partei nützlich ist. Und es findet sich darin auch der eine oder andere Merksatz, der sich in heutigen Debatten wie eine Pointe mit besten Grüßen aus der Vergangenheit liest. Zum Beispiel, wenn Autor Kasamas im Kapitel über Staatspolitik der Opposition ausrichtet: "Auch die Minderheit muß zu jeder Zeit [...] die Interessen des Allgemeinwohls im Auge haben und sie darf die schwierige Lage einer Regierung nicht zur Verfolgung eigensüchtiger Ziele durch eine rein negative Kritik ausnützen."
In ihren Gründungsjahren hat die ÖVP bestehenden und überwundenen Gesellschaftsformen die Idee des "ausgleichenden Solidarismus" entgegengestellt. Diese Staatsphilosophie wird in dem Buch sehr ausführlich beschrieben und zu anderen Ideologien (Individualismus, Kollektivismus) abgegrenzt. Der Begriff fand sich auch noch im "Salzburger Programm" von 1972, seither ist er in Vergessenheit geraten; vielleicht auch, weil generell die Zeit großer politischer Würfe vorbei ist.
Über das Bürgerliche ist in keinem Grundsatzprogramm zu lesen, erst 2015, beim aktuell gültigen, taucht an zwei Stellen immerhin der Begriff auf, wenn von einer "bürgerlichen Sozialpolitik" die Rede ist. Sie kann man wohl als Fortführung des Solidarismus verstehen. Laut Kasamas gehe es darum, den Gedanken der Gerechtigkeit zu verwirklichen, rund 70 Jahre später beschreibt die ÖVP das Ziel wie folgt: "Zentral für bürgerliche Sozialpolitik ist der Wert der Chancengerechtigkeit."
Gerechtigkeit wollen in der Politik alle, umso schwammiger ist die Definition. Was ist gerecht? Keine Partei will die Deutungshoheit darüber den anderen Parteien überlassen. Auch in der ÖVP hat sich dieser Begriff gewandelt. War Kasamas noch der Sichtweise, dass es "gottgewollte Ungleichheit" gab und Gerechtigkeit daher auch bedeute, dass "nicht jeder Mensch vollständig gleiche Rechte und Pflichten" haben soll, war das 1972 nicht mehr zeitgemäß.
"Alle sollen gleiche Rechte bei gleichen Pflichten und gleichen Möglichkeiten haben", hieß es im "Salzburger Programm". Daraus entwickelte sich das Konzept der "Chancengerechtigkeit": Gleiche Rechte und Pflichten haben darin Bestand, Ungleichheiten in "Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Interessen" werden aber ab 1995 wieder betont.
Bündische Struktur als Signet für sozialen Frieden
Eine wichtige Ergänzung zur "bürgerlichen Sozialpolitik" fand dann zwanzig Jahre später statt, als die ÖVP im nun gültigen Grundsatzprogramm erstmals "Solidarität mit jenen" einforderte, "die Hilfe möglich machen".
Man könnte diese Feststellung als ideologischen Türöffner dafür verstehen, was zwei Jahre später von Sebastian Kurz im Wahlkampf propagiert wurde, nämlich das klare Benennen von Leistungsträgern und Leistungsbeziehern sowie eine Differenzierung innerhalb der Bezieher, die vor allem Zuwanderer klar schlechterstellte. "Wer arbeitet und Leistung erbringt, darf nicht der Dumme sein. Wer Leistung beziehen will, muss zuerst Leistung erbringen", sagte Kurz. Es ist diese Differenzierung, die programmatisch in Etappen kam, die der deutsche Soziologe Wilhelm Heitmeyer als gesellschaftliche Zäsur sieht. Seine These: Von Abstiegsangst getrieben, kündigen Bessergestellte ihre Solidarität auf oder knüpfen sie an Kriterien, etwa der Herkunft. Heitmeyer spricht von "roher Bürgerlichkeit". Eine Abkehr von früheren Idealen der ÖVP?

Kontext ist auch beim frühen Selbstverständnis der Volkspartei wichtig. Sowohl die Idee des Solidarismus als auch die bündische Struktur waren eine Antwort auf die Verwerfungen vorangegangener Jahrzehnte. Beides sollte das friedliche Zusammenleben befördern und Klassenkämpfen vorbeugen. "Die bündische Gliederung der Partei ist die Bürgschaft dafür, dass die natürlichen Interessensgegensätze zwischen den drei Hauptberufsgruppen - den Arbeitnehmern, den Bauern und den wirtschaftlich Selbständigen - innerhalb der Partei im Geiste eines höheren Zusammengehörigkeitsgefühls und damit auf friedlichem Wege überbrückt werden."
Man war sich schon damals, 1949, bewusst, dass dieser, alle Bevölkerungsgruppen umfassende Aufbau der Partei eine Herausforderung darstellt. Aber Kasamas befand, dass es "während der schwierigen Jahre seit 1945 möglich war, die Einheit unserer Partei nicht nur zu bewahren, sondern sogar noch zu festigen." Und dann richtet sich der Autor, wie etliche Male, indirekt an die politischen Mitbewerber. "Heute fällt es nicht einmal mehr unseren Gegnern ein, auf eine Spaltung in unseren Reihen zu hoffen. Sowohl die Linksparteien wie auch andere Interessenten mußten vielmehr diesen ,Lieblingsgedanken‘ schon vor längerer Zeit zu Grabe tragen."
Dieser Befund gehört zu jenen in der Schrift, die weniger gut gealtert sind. Schon als sich die ÖVP das "Salzburger Programm" gab, schrieb Parteidenker H. Christof Günzl in einem Kommentar: "Die Integration der Bünde bzw. der Teilorganisationen zu der einen und geeinten Partei ist bisher aber nicht restlos gelungen. Wie wir aus peinlichen Erfahrungen wissen, ist es immer wieder geschehen, daß die einheitliche Linie [...] an den bündischen Sonderinteressen scheiterte."
Die ebenfalls 1945 gegründete CDU in Deutschland ist strukturell anders aufgebaut. Aufgrund der spezifischen Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit ist aber diese aus heutiger Sicht eigentümliche Struktur der ÖVP aber nachvollziehbar und kann auch als spannendes Experiment eines quasi vorgelagerten Interessensausgleichs verstanden werden. Wenn ein Kompromiss innerhalb der Volkspartei gelingt, wird er mit anderen Parteien auch leichter werden. Aus der intensiven Einbindung der Sozialpartner lässt sich ebenso ermessen, dass dem sozialen Frieden zumindest über weite Strecken der Zweiten Republik ein höherer Wert beigemessen wurde als der lebhaften politischen Debatte.
Im Konflikt um die Asylfrage, den Sachslehner ansprach, dürfte die bündische Struktur nur eine Nebenrolle spielen. Kurz hatte die ÖVP 2017 direkt aus der JVP heraus übernommen, deren Forderungen aber nur zum Teil mitgenommen. Es gab keinen Ausbau der direkten Demokratie, kein Mehrheitswahlrecht und auch keine Pensionsreform. All das findet sich noch heute, unerfüllt, im Forderungskatalog der JVP. Allerdings kamen viele aus Kurz’ Umfeld und der JVP, auch Sachslehner, zu Positionen in Partei, Land und Staat. Sie bestimmten maßgeblich das Wirken der ÖVP in den vergangenen Jahren, wenn auch eher nicht thematisch.
Die Asylfrage entzweite das konservative Lager
Die Junge Volkspartei ging aus der Österreichischen Jugendbewegung hervor, die primär erzieherische Aufgaben hatte, wie bei Kasamas nachzulesen ist. Seit 1971 ist die JVP eine gleichberechtigte Teilorganisation, was sich einige Jahre später dann auch im Bestreben des Nachwuchses äußerte, einen EU-Beitritt zu forcieren. Es dauerte dann aber wieder Jahrzehnte, ehe dieser Bund erneut Wirkmacht erlangte. Bis Kurz. 2015 scheiterte ein JVP-Antrag am Parteitag für ein Mehrheitswahlrecht um nur eine Stimme.
In der Streitfrage Asyl war es nicht unbedingt die JVP als Teilorganisation, die sich parteiintern durchsetzte, wohl aber deren Obmann Kurz. Es war die Zeit der Flüchtlingskrise, die in einigen europäischen Ländern im konservativen Lager zu Richtungsdebatten führte. In Deutschland sorgte die Gründung der "Werteunion" für parteiinterne Spannungen in der CDU, einzelne Politiker wechselten zur AfD. In Dänemark spalteten sich die "Neuen Bürgerlichen" von der konservativen Folkeparti ab, in Spanien entstand die rechtskonservative Vox.
Auch in Österreich belastete die Asylfrage die Volkspartei, jedoch mit anderen Folgen. Kurz positionierte sich, im Kontrast zu Ex-Parteichef Reinhold Mitterlehner, als Antithese zu Angela Merkel. Mit dem Obmannwechsel war dieser inhaltliche Konflikt aber entschieden, während etwa CDU und CSU noch länger um eine gemeinsame Linie rangen.
In der Schrift von 1949 steht zu Flüchtlingen naturgemäß nichts, die Genfer Konvention wurde erst zwei Jahre danach verabschiedet. Sehr wohl ist aber ein längeres Kapitel dem Nationalbewusstsein gewidmet, das sich streckenweise sonderlich liest, wenn etwa Kasamas über den "österreichischen Volkscharakter" räsoniert. Zu den Eigenschaften des Österreichers gehöre demnach sein "heiteres Wesen, seine Bescheidenheit und Zufriedenheit sowie sein ausgeprägtes Urteilsvermögen" sowie ein "hohes Maß von Toleranz gegenüber allen anderen Nationen und Kulturen".
Kasamas befand aber auch: "Auf unserem Boden siedelten im Laufe der letzten zwei Jahrtausende zahlreiche Völker und Rassen, von denen viele mehr oder minder ausgeprägte Spuren in unserem Volkskörper hinterlassen haben. Österreich war schon immer nicht nur das Herzstück, sondern auch das Durchgangsland Europas."
Was in der Gegenwart nach klischeehaften Multikulti-Träumereien klingt, muss natürlich ebenfalls in den Kontext der damaligen Zeit gesetzt werden. Und dass Zuwanderung in nur wenigen Jahrzehnten, und nicht, wie Kasamas schrieb, in "zwei Jahrtausenden [...] Spuren in unserem Volkskörper" hinterlässt, war damals nicht einmal eine Fantasie.
Es ist logisch, dass eine Partei, die sich seit ihrer Gründung als "Partei für das ganze Volk" ("Klagenfurter Manifest", 1965) versteht und diesen Begriff auch in ihrem Namen trägt, dieses "Volk" irgendwie definieren muss. Das tat sie aber nur in den Gründungsjahren ausführlich.
Ab 1995 widmete sich die ÖVP dem Thema Migration
In folgenden Programmen wurde dieser Punkt nur gestreift, ganz so, als wäre diese Frage nicht mehr aktuell. Und vielleicht war sie es auch nicht. Das änderte sich aber in den 90ern, als sich der Ausländeranteil binnen weniger Jahre von vier auf acht Prozent verdoppelte. Heute liegt er bei 18 Prozent. Auf jeden Fall ist das Volk nicht mehr gleichbedeutend mit "alle Staatsbürger". Dieser Begriff ist auch aus den Parteiprogrammen verschwunden.
Dem Thema der Zuwanderung mit ihren vielfältigen Auswirkungen widmet sich die ÖVP in grundsätzlicher Form erst seit dem "Wiener Programm" 1995. Nicht nur, dass sie Aspekte der Migration erstmals thematisierte, erläuterte sie auch wieder ihre Vorstellung vom Volk näher: "Wir wollen [...] das Recht der Österreicher auf Heimat, kulturelle Identität und Sicherheit gewährleisten. Gleichzeitig haben wir aber in unserer Gesellschaft das Verständnis, den Respekt und die Mitmenschlichkeit gegenüber den Fremden und Ausländern sicherzustellen. Freilich kann nicht jeder Ausländer ein Recht auf Aufenthalt in unserer Heimat erhalten. Jeder Ausländer hat aber als Mensch in Österreich einen Anspruch auf gerechte und menschenwürdige Behandlung. Wir wollen, dass Österreich seiner Verpflichtung als Asylland weiterhin nachkommt."
Ähnlich wird das Thema zwanzig Jahre später abgehandelt. Die Zuwanderung müsse sich an den "Bedürfnissen unseres Landes orientieren", heißt es. Eine "wirksame Integration" sei wichtig, aber "wir anerkennen den Beitrag von bereits zugewanderten Menschen". Toleranz gegenüber "anderen kulturellen Ausdrucksformen" wird eingemahnt. Das Grundsatzprogramm 2015 war nach einjähriger Erarbeitung im Mai beschlossen worden, zwar im Jahr der Fluchtkrise, aber noch vor deren Eskalation. Gerade diese Passage ist nicht mehr aktuell.
Laut dem Leitantrag beim heurigen Parteitag, auf dem Karl Nehammer gewählt wurde, soll "illegale Migration beendet" werden, und es wurde ein "Kampf" gegen den politischen Islam ausgerufen. "Der Erhalt der österreichischen Identität ist uns ein besonders wichtiges Anliegen. Integration bedeutet für uns deswegen auch die Akzeptanz der österreichischen Werteordnung." Auch bei Einbürgerungen ist die Linie klar und zählt europaweit zu den restriktivsten, sogar noch vor Ungarn.
Es ist eine weitere skurrile Note von Sachslehner Abschied. Denn wenn die ÖVP, zumindest nach außen hin, eine eindeutige Sprache spricht, dann bei Zuwanderung, Asyl und Integration, die zunehmend als Assimilation gedeutet wird. Zwar geht die JVP in ihren Forderungen noch weiter und will auch Asylzentren außerhalb der EU, doch das sind Nuancen.
Das Problem der ÖVP besteht bei diesem Thema primär darin, dass nationale Politik verfassungsrechtlich wenig Spielraum hat. EU-Schengen öffnet die Grenzen; über Asylanträge entscheidet der Rechtsstaat, nicht die Politik; Fluchtbewegungen werden von Krisen und Katastrophen verursacht; für den Außengrenzschutz ist Frontex zuständig. Obwohl also die ÖVP diese Frage für sich geklärt hat, ist sie mangels Kompetenz dennoch angreifbar.
Es sind daher eher die übrigen Politikfelder, denen die Klarheit fehlt: Klimawende ja, aber bloß keine Verbote. Abgaben senken, aber die Förderlandschaft ausbauen. Nulldefizit anstreben, aber mit der Gießkanne unterstützen. Nicht immer, aber doch häufig, ist dies eine Folge des innerparteilichen Interessensausgleichs. Auch jüngst wieder: Die JVP forderte öffentlich eine geringere Pensionserhöhung, der Seniorenbund machte sich für eine Erhöhung über dem gesetzlichen Anpassungsfaktor stark. Aber was will die ÖVP?
Es ist für die ÖVP ein Dilemma, dass eine akzentuierte Politik, wie etwa unter Wolfgang Schüssel, zwar Profil verleiht und bei Wahlen auch erfolgreich sein kann, gleichzeitig aber für die Partei und ihre Bünde eine Herausforderung darstellt. Während Schüssel in seiner Kanzlerschaft auch tatsächlich einzelne Bünde budgetär privilegierte, man denke an Pensionsreform, Nulldefizit und "weniger Staat", begnügte sich Kurz vor allem mit akzentuierter Rhetorik. Kein Bund musste wirklich zurückstecken, auch die Senioren nicht. Und die Jugend bekam immerhin Karrierechancen.
Beliebigkeit durch Breite
Vielleicht hatte Kurz damit den parteiinternen Stein des Weisen gefunden, denn er war sehr gefestigt an der Spitze, und nicht nur durch das Amt. Er stolperte aber über sich selbst. Oder über einen Merksatz von Alfred Kasamas, Seite 79? "Parteipolitik darf niemals der Staatspolitik vorangestellt werden, weil das einen Mißbrauch der Demokratie bedeuten würde."
Der zweifellos bürgerliche Publizist Christian Ortner schrieb unmittelbar vor dem Rücktritt von Kurz in der "Wiener Zeitung": "Eine Partei, deren inhaltliche Fundamente nicht gerade stark sichtbar sind, weil sie zur Machtagentur umgebaut wurde, steht wie ein Luftballon ohne Hülle da, wenn jene Person wegfällt, auf die sie zugeschnitten ist." Das ist nun der Stand der Dinge.
Es ist wohl kein Zufall, dass die ÖVP unter Nehammer ein völlig neues Gesicht zeigte. Man könnte es aber als altes, ganz im Sinn der Gründerväter, sehen? Beim Parteitag präsentierte man sich als Österreich-Partei mit dem Anspruch, alle Bevölkerungsgruppen vertreten zu wollen. In einem Imagevideo hieß es, die ÖVP sei die Partei, in der Schuhgröße 18 bis 48 getragen und zu Schuhplattler und Hardrock getanzt würde. "Wir sind überzeugte Vegetarier und begeisterte Fleischtiger, tragen Lockenwickler und Rastalocken, sind Frühaufsteher und Langschläfer und alles dazwischen." Von dieser Breite ist es nicht weit zur Beliebigkeit.
Neu ist das freilich nicht. Denn auch im Vorwort zum Grundsatzprogramm von 1949, das der damalige Generalsekretär und Bundesminister Felix Hurdes verfasst hatte, wird auf den Vorwurf programmatischer Beliebigkeit eingegangen, aber mit einem Ausdruck der Befriedigung angesichts des 200 Seiten starken Werks. "Die vorliegende Arbeit straft alle jene Lügen, die zu behaupten versuchen, die Österreichische Volkspartei habe kein eigenes Programm."