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Das EU-Parlament wählt einen neuen Präsidenten. Der Ausgang ist offen.
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Straßburg. Die Gerüchteküche brodelt in den letzten Stunden vor der Wahl eines neuen EU-Parlamentspräsidenten. Alles ist an diesem Dienstag möglich, nichts scheint ausgeschlossen. Welcher der sieben Kandidaten die Stimmen der Abgeordneten, die in Straßburg abstimmen, für sich gewinnen kann, darüber kann nur spekuliert werden.
Es ist das jedenfalls erste Mal, dass eine Wahl zum EU-Parlamentspräsidenten auf diese Weise stattfindet: Die große Koalition zwischen europäischer Volkspartei (EVP) und den Sozialdemokraten (S&D) ist in die Brüche gegangen, jede Fraktion stellte ihren eigenen Kandidaten auf. Mit Gianni Pittella und Antonio Tajani sind gleich zwei Italiener im Rennen, die allgemein für Kopfschütteln sorgen. Denn Pittella spricht ausschließlich italienisch und gilt als profillos, Tajani ist nicht nur Partei-, sondern auch Busenfreund des ehemaligen italienischen Skandal-Premierministers Silvio Berlusconi.
Nun ist die EVP mit 216 von 751 Sitzen zwar die stärkste Kraft im Parlament, doch braucht sie, um ihren Kandidaten durchzusetzen, auch die Unterstützung von Abgeordneten aus anderen Fraktionen. Hinzu kommt, dass Tajani mit seiner Nähe zum europäischen Populismus selbst für viele EVP-Abgeordnete unwählbar ist.
Dass es einer der beiden Kandidaten schafft, in den ersten beiden Wahlgängen die absolute Mehrheit zu erreichen, ist also so gut wie ausgeschlossen. In der EVP hofft man dennoch auf einen Sieg Tajanis - beim vierten Wahlgang bräuchte er nur noch die einfache Mehrheit, um zum Präsidenten gewählt zu werden. Kommt es dann beim vierten Wahlgang zu einer Kampfabstimmung, könnten ausgerechnet die Abgeordneten der Rechtsparteien aus dem Lager Marine Le Pens den Ausschlag geben - eine weitere Blamage für die demokratische EU-Institution.
Denkbar ist aber auch ein Rückzug einer oder mehrerer Kandidaten, falls sie in den ersten beiden Wahlgängen schlecht abschneiden. Theoretisch hätten die Fraktionen dann die Möglichkeit, in letzter Sekunde einen Überraschungskandidaten aus dem Hut zu zaubern - jemanden, der bessere Chancen hat, vielleicht eine Frau? Kandidaten, die kurzfristig oder als Ersatz antreten wollen, brauchen 38 Unterstützer innerhalb des EU-Parlaments - oder die Zustimmung eines Fraktionsvorsitzenden.
Dass es der Kandidat der liberalen Alde-Fraktion schafft, gilt ebenfalls als unwahrscheinlich. Der ehemalige belgische Premier Guy Verhofstadt ist zwar ein charismatischer Redner und überzeugter Europäer, aber auch er polarisiert. Aus EVP-Kreisen hieß es am Montag, dass seine interne Erzfeindin, die Französin Sylvie Goulard, eine Art Coup planen könnte. Goulard, die fünf Sprachen spricht und früher eng mit Ex-EU-Kommissar Mario Monti zusammengearbeitet hat, könnte demnach als Unabhängige Kandidatin antreten. "Viele EVPler würden sie wählen", heißt es dazu.
Dass die beiden Großparteien keine geeigneten Kandidaten aufgestellt haben, sorgt schon seit Wochen für Kritik. Wie viele EU-Abgeordnete kritisiert auch Othmar Karas die Vorbereitungen der Wahl und den Auswahlprozess der Kandidaten. Nationale Interessen hätten eine viel zu große Rolle gespielt, sagt der ÖVP-Delegationsleiter im Europäischen Parlament. "Wenige Stunden vor der Wahl für das überparteiliche Amt dominieren Fraktionierung, Parteipolitisierung und Lagerbildung das Bild", sagt Karas. Der Abgeordnete weist darauf hin, dass im Europäischen Parlament seit 1979 das Rotationsprinzip gilt. "Leider wird dies derzeit von S&D, Alde und Grünen in Frage gestellt." Doch Karas kritisiert auch die eigene Fraktion, wenn er sagt, dass die EVP schon vor Weihnachten Gespräche über einen geeigneten Kompromisskandidaten hätte führen sollen.
Es bleibt abzuwarten, ob die Konservativen, die Schulz aus dem Amt jagten, sich damit ein Eigentor geschossen haben. Denn das Gerangel in Brüssel und Straßburg macht kein gutes Bild in diesen ohnehin schon turbulenten Zeiten. Und der nächste Präsident wird am Erbe des Martin Schulz zu kiefeln haben. Der Deutsche hat das EU-Parlament in Bewegung gebracht und der Institution ein Gesicht gegeben wie keiner vor ihm.
Grüne schicken nach Brexit Britin ins Rennen
Auch EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker wird ihn wohl vermissen. Zumindest hatte er damit gedroht, selbst zurückzutreten, sollte der Sozialdemokrat durch einen Konservativen ersetzt werden. Dass das nicht ganz ernst gemeint war, dürfte mittlerweile allerdings allen klar sein. Wird Tajani trotz allem gewählt, dann sind die drei höchsten europäischen Posten von Konservativen besetzt: mit Ratspräsidenten Donald Tusk, Kommissionschef Juncker und eben Tajani als Parlamentspräsidenten. Bei all dem Chaos scheinen sich zumindest die Grünen ihren Humor bewahrt zu haben: Sie schicken mit Jean Lambert eine Britin ins Rennen - kurz, bevor London im März seinen Austritt aus der EU verkünden will.
Der scheidende Schulz hat die Abgeordneten jedenfalls aufgerufen, gegen die europaskeptischen Kräfte zusammenzustehen: "Nach der Wahl sollten die proeuropäischen Kräfte auf einer breiteren Basis zur Zusammenarbeit zurückkehren", so der deutsche Sozialdemokrat.