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Die ewige Katastrophe

Von Ronald Schönhuber

Politik

Drei Jahre nach dem Beben leben in Haiti noch 350.000 Menschen in Zelten.


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Port-au-Prince. Wie ein gestrandeter Wal lag der schneeweiße Steinkoloss fast zweieinhalb Jahre da. Hilflos in sich zusammengesackt und auf eine ungewisse Zukunft wartend, das Symbol eines ohnehin schon geschundenen Landes, das durch das verheerende Erdbeben vom 12. Jänner 2010 noch tiefer ins Chaos gestürzt wurde.

Nun, drei Jahre später, hat sich immerhin das Schicksal des Präsidentenpalastes in der Hauptstadt Port-au-Prince geklärt. Seit die Stiftung des Hollywood-Schauspielers Sean Penn vor einigen Monaten angeboten hat, die Trümmer zu beseitigen, wird das mächtige Gebäude Stück für Stück abgetragen. Die letzten Überreste werden wohl kurz, nachdem Haiti den dritten Jahrestag der Katastrophe begeht, beseitigt sein.

Ein Symbol für die Lage des bitterarmen Karibikstaates bleibt der Präsidentenpalast aber auch nach seinem Verschwinden. Überall dort, wo sich in den Straßen jahrelang der Schutt meterhoch auftürmte, ist das Gröbste beseitigt worden, doch was anstelle der brachen Flächen kommt, die Port-au-Prince wie klaffende Wunden durchziehen, ist nicht absehbar. Auch drei Jahre nach dem Beben ist es aufgrund fehlender oder strittiger Landtitel häufig noch unklar, wer überhaupt Anspruch auf eine bestimmte Immobilie oder ein bestimmtes Grundstück besitzt. Und ohne rechtliche Basis ist an den Bau eines neuen Hauses nicht zu denken.

Das Problem der Landtitel spiegelt sich auch nach wie vor in der großen Menge der Flüchtlinge wider. Zwar konnte ihre Zahl dank des Einsatzes der internationalen Staatengemeinschaft und der großen Hilfsorganisationen im vergangenen Jahr um mehr als 200.000 gesenkt werden, doch nach wie vor leben in und um Port-au-Prince 350.000 Menschen in Behelfsunterkünften. Und sie tun dies häufig noch immer unter prekären Umständen. Ein paar Holzlatten und eine darübergespannte Plastikfolie, die den Regen mehr schlecht als recht abhält - mehr ist es oft nicht, das den Menschen hier als Behausung dient. Das Programm zur Restaurierung von beschädigten Häusern in 16 Stadtvierteln, das die Auflösung von sechs Obdachlosenlagern ermöglichte und daher von Präsident Michel Martelly gerne als positives Beispiel angeführt wird, erscheint da nur wie ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Wer kann, der geht

Die nach wie vor ungelöste Lage der Obdachlosen ist aber nur eines von vielen Problemen, mit denen Haiti derzeit kämpft. Kaum dass man die schwere Cholera-Epidemie, die in den vergangenen zwei Jahren mehr als 7000 Tote forderte, durch verbesserte Sanitäreinrichtungen und Hygieneschulungen einigermaßen in den Griff bekommen hat, wurde das Land zunächst von einer schweren Dürre und dann von Wirbelsturm "Sandy" heimgesucht. "Derzeit haben schon rund 38 Prozent der Bevölkerung zu wenig Lebensmittel und 80.000 Kinder sind unterernährt", sagt Stefan Pleisnitzer, der Regionalverantwortliche für die Lateinamerika/Karibik-Region bei der Hilfsorganisation World Vision. "Es hört einfach nicht auf."

Fast noch problematischer scheint allerdings der langfristige Blick in die Zukunft. Denn trotz der groß angekündigten Versprechungen der Weltgemeinschaft, das Land nach dem Beben nicht nur aufzubauen, sondern besser zu machen, sind viele strukturelle Probleme von einer Lösung so weit entfernt wie eh und je. Die Arbeitslosenrate lag 2012 offiziell bei knapp 40 Prozent, doch selbst wer formal einen Job besitzt, ist oft nur wenige Stunden oder ein, zwei Tage pro Woche beschäftigt - viel zu wenig, um sich oder seine Familie einigermaßen über die Runden zu bringen. Und viel Aussicht auf Besserung besteht nicht. Zwar wurde im Oktober der mit amerikanischer Hilfe errichtete Industriepark Caracol im Norden von Haiti eröffnet, von dem sich die Regierung die Schaffung von bis zu 37.000 Arbeitsplätzen verspricht. Doch der erhoffte Wiederaufbau-Boom, in dessen Zuge potente Investoren ins Land strömen, ist nicht in Sicht. "Die bürokratischen Strukturen sind nach wie vor auch nicht unbedingt investitionsfördernd", sagt Pleisnitzer, der in den vergangenen drei Jahren vier Mal in Haiti war.

Wer gut ausgebildet ist, hat angesichts dieser Perspektiven häufig schon die Konsequenzen gezogen. Seit dem Erdbeben hat die Abwanderung der Intelligenzija ins Ausland, die in Haiti schon immer hoch war, noch einmal deutlich zugenommen. Mittlerweile, so klagt Präsident Martelly, sei es für den Staat fast unmöglich geworden, qualifiziertes Personal für höherwertige Stellen zu finden.

Ob der ehemalige Kompa-Musiker mit dem Spitznamen "Sweet Micky", dem bei seiner Wahl im April 2011 enorme Vorschusslorbeeren entgegengebracht wurden und der auch heute noch auf hohe Zustimmungswerte bauen kann, in der Lage ist, das Ruder herumzureißen, scheint allerdings ungewiss. Martelly verfügt im Parlament über keine Mehrheit und so muss fast jedes Gesetz mit wechselnden Koalitionen zustande gebracht werden. Die Verhandlungen gestalten sich dabei meist schwierig: Vom parteiübergreifenden Konsens der ersten Aufbaumonate ist wenig über, statt dem Gemeinsamen dominieren nun wieder die Partikularinteressen der politischen Eliten.

Auf Hilfe aus dem Ausland kann Martelly dabei nicht allzu sehr bauen. Angesichts von Euro-Krise und Fiskalklippe hat sich der Blick der reichen Länder weit von Haiti entfernt und aus dem ehemals gewaltigen Strom an - oft auch schlecht eingesetzter - finanzieller Unterstützung ist ein dünnes Rinnsal geworden. Die Hoffnung wollen Haiti-Experten wie Pleisnitzer aber dennoch nicht aufgeben. "In einem Land wie diesem braucht man einen realistischen Zeithorizont", sagt der World-Vision-Mitarbeiter.

Spenden: World Vision "Haiti"Kt-Nr: 90890000, BLZ: 60000