Keine Volksgruppe ist heute so stark von Rassismus betroffen wie die Roma. | Im Mittelalter waren sie zunächst als christliche Pilger willkommen. | Wien/Brüssel. Dass Integration in die Berufswelt und ein friedliches Miteinander der Volksgruppen nicht eine Frage der Zeit sind, sieht man an den Roma: Bis ins Mittelalter reicht ihre Präsenz in Europa zurück. | Brüssel droht Paris Strafe an | Sarkozy und die 'Praxis des Lügens' | Rom auf der Flucht erschossen - Freispruch
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Doch vor zwei Jahren kam die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte in ihrer bisher umfassendsten Rassismus-Studie zum Schluss, dass Roma am meisten von Diskriminierung betroffen sind - noch vor Afrikanern und türkischstämmigen Europäern. Rund 50 Prozent waren 2008 im Alltag mit Rassismus konfrontiert.
Doch die Politik wirkt angesichts einer Volksgruppe, die sich bis heute nicht in die Normen des bürgerlichen Daseins einfügt, ratlos. Als "Schande", die sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht für möglich gehalten hat, bezeichnete EU-Justizkommissarin Viviane Reding die Zwangsabschiebungen der Roma durch Frankreich. Das Thema reicht aber viel weiter zurück, die Nazi-Verbrechen waren trauriger Höhepunkt.
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Die erste Aufnahme der Roma in Mittel- und Westeuropa war noch freundlich. Nachdem die Roma vor ungewisser Zeit - wir wissen nicht wann - Indien verließen und vor geschätzten 1000 Jahren Byzanz erreichten, belegen seit Beginn des 15. Jahrhunderts Chroniken ihr Eintreffen in zahlreichen europäischen Städten. Sie erschienen in Pilgergruppen von bis zu 300 Personen und stellten sich den Stadtherren offiziell vor. Schutzbriefe kirchlicher und weltlicher Herrscher sicherten ihnen Schutz zu. Ihre Wanderschaften stellten die Roma als Buß-Pilgerschaften für den vorübergehenden Abfall vom Christentum dar. Das bescherte ihnen mittelalterliche Gastfreundschaft. Vermutlich flohen die meisten Roma vor Kriegen im Zuge des Vordringens der Türken in Südosteuropa.
"Ärmste Geschöpfe"
Als "die ärmsten Geschöpfe, die man seit Menschengedenken jemals in Frankreich hatte kommen sehen", beschrieb 1427 ein anonymer Pariser die ersten eintreffenden Roma. "Sie sagten, sie seien gute Christen und stammten aus Unterägypten."
Doch schon damals bestimmten Stereotype das Roma-Bild. "Trotz ihrer Armut gab es unter ihnen Hexen, die, indem sie die Hände der Leute betrachteten, die Vergangenheit enthüllten und die Zukunft voraussagten", erklärte der anonyme Tagebuchschreiber. "Das Schlimmste aber war, dass sie, während sie redeten, die Börse ihres Zuhörers in die eigene leerten, sei es durch Zauberei, sei es durch des Teufels Hilfe oder ihre Fingerfertigkeit." An anderer Stelle räumt der Schreiber ein: "Um die Wahrheit zu sagen, ich selbst ging drei- oder viermal dorthin, um mit ihnen zu sprechen, aber ich büßte nie einen Pfenning ein, noch sah ich sie aus der Hand lesen."
Bald wurden die Roma unbeliebter. Einerseits häuften sich mit ihren Besuchen auch die Kosten, andererseits wurde ihre Anwesenheit aufgrund von Vorurteilen als Bedrohung empfunden. Der Kirche waren Heilpraktiken ein Dorn im Auge. Zudem galt in der Neuzeit ein Leben von Almosen als verwerflich. Die Roma verloren ihren Pilgerstatus, Fürsten erschienen sie als Herumtreiber, die sich nicht in die Gesellschaftsordnung einfügten. Dabei versuchten viele Roma, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, doch Zünfte ansässiger Handwerker sahen darin eine Konkurrenz.
Schutz durch den Adel
Ab Beginn des 16. Jahrhunderts setzte 250 Jahre lang eine regelrechte Verfolgung der Roma ein. Quer durch Europa wurden grausame Gesetze erlassen, die ihre Vernichtung bezweckten. Dass die Maßnahmen nicht zum Verschwinden der Roma führten, lag auch daran, dass die Behörden die Gesetze nicht mit der geforderten Strenge ausführten und einzelne Adelige ihnen weiterhin Schutz boten.
Im 18. Jahrhundert setzte man zunehmend und ebenfalls erfolglos auf Zwangs-Assimilation. Mit beginnendem 19. Jahrhundert begannen viele Herrscher daher mit der Einweisung der Roma in "Arbeitshäuser". Daraufhin fingen zahlreiche Roma wieder an, ein Nomaden-Dasein zu führen: Sie zogen umher und versuchten durch Ausübung eines Wandergewerbes ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Für die Existenzsicherung reichte das kaum aus, viele Familien lebten in elenden Verhältnissen. Die beginnenden antiziganistischen Darstellungen lieferten schließlich die theoretische Grundlegung der späteren Vernichtung der "Zigeuner" im Dritten Reich.
In Österreich stieg ab den 90er Jahren die Zahl an Roma im Zuge des Kriegs in Ex-Jugoslawien an. Eine im Juni erschienene Studie von Ines Kälin-Schreiblehner und Herwig Schinnerl untersucht die Situation bosnischer Roma im Weinviertel. "Unserer Erfahrung nach sind die Flüchtlinge durchaus arbeitswillig", berichtet Schinnerl. "Gerade die junge Generation wünscht sich mehr Kontakt zur hiesigen Bevölkerung, die Beherrschung von Deutsch und Englisch ist hochgeschrieben." Ein Nachteil sei aber, dass die Eltern bildungsfern sind. So hätte sich etwa eine Mutter darüber gefreut, dass ihre Tochter nun aus der Sonderschule bessere Noten mitbrachte, ohne zu wissen, dass man in der Sonderschule faktisch am Abstellgleis landet. In Bildung sieht Schinnerl die Antwort auf das Problem.