Der Wirtschaftsphilosoph Rahim Taghizadegan spricht im Interview über die Unmöglichkeit für Europa, der "Nullzinsfalle" zu entrinnen, die Hybris der Zentralbanker und warum deren Politik einen "Wohlfahrtsstaat für Reiche" geschaffen hat.
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"Wiener Zeitung": Herr Taghizadegan, die immer wieder angekündigte Zinswende lässt im Euroraum weiter auf sich warten. Die Leitzinsen sind seit mehr als drei Jahren auf dem Nullpunkt, die Inflation springt trotzdem nicht so richtig an und auch die Konjunktur stottert wieder. Sie behaupten in Ihrem neuen Buch, dass sich die EZB in einer Nullzinsfalle befindet. Eine Falle impliziert, dass man aus ihr nicht mehr rauskommt, oder?Rahim Taghizadegan: Offensichtlich nicht. Zinserhöhungen sind nämlich nur denkbar, wenn sich eine Erholung in der Realwirtschaft zeigt. Das heißt, wenn die Preise für Konsumgüter steigen. Das ist aber nicht der Fall. Und die andere Möglichkeit für die Notenbanken, der Negativzins, wäre ein echtes Risiko. Er stellt eine psychologische Schwelle dar. Wenn die 2000 Euro am Konto jeden Monat um ein paar Euro weniger werden - etwas, das de facto real ja schon passiert, der Negativzins würde das aber sichtbar machen -, werden die Leute beginnen, Bargeld zu horten. Oder sie weichen auf andere Anlagemöglichkeiten aus. Es käme zu einem weiteren Abziehen von Geld vom Konsum hin zu den Finanzwerten, was die Politik der Zentralbanken hintertreiben würde. Auch führende Zentralbanker gehen deshalb davon aus, dass man, bevor man einen Negativzins einführt, ein Bargeldverbot bräuchte. Dabei kann man es aber nicht bewenden lassen. Man müsste dann sehr weitgehend regulieren, was die Menschen mit ihrem Geld machen. Da käme dann vielleicht noch ein Goldverbot, ein Verbot von Kryptowährungen oder ein Immobilienspekulationsverbot.
Ist so etwas überhaupt denkbar oder durchführbar?
Im Moment ist das wenig wahrscheinlich. Das kann sich aber ändern, wenn die Verzweiflung steigt. In der Nullzinsfalle wichen die Zentralbanken auf neue Formen der Geldpolitik aus, etwa das Quantitative Easing, den Ankauf aller möglicher Wertpapiere, zum Beispiel von Staatsanleihen. Das hat aber auch nur zu einer exponentiellen Explosion der Zentralbankbilanzen geführt, ohne deutlichen positiven Effekt. Das erwartete Anziehen der Preise der Konsumgüter hat nicht stattgefunden. Und deshalb denken die Zentralbanken jetzt über andere Möglichkeiten nach, ihr durch sie geschöpftes Geld in Umlauf zu bringen. Das könnten Dinge wie Helikoptergeld sein oder direkte Staatsfinanzierung.
Wäre es nicht doch möglich, die Zinsen wieder zu erhöhen? In den USA ist das doch auch gelungen, ohne dass die Wirtschaft abgewürgt worden wäre. Spricht die Entwicklung dort nicht gegen Ihre These?
Dieses sogenannte "Wirtschaftswunder" von Trump hat einen Schönheitsfehler. Es ist durch höhere Verschuldung erkauft. Die USA können sich das aber leisten. Sie verfügen über die Leitwährung Dollar. Damit fließen Gelder in US-Vermögenswerte. Der Euro oder der japanische Yen sind da im Vergleich doch recht kleine Mitspieler. Und solange in Europa oder Japan die Geldpolitik nicht deutlich anders ist, haben die USA kein Problem, ihre durch Geldschöpfung ermöglichte Schuldenfinanzierung weiterzuführen.
Weil Sie Japan angesprochen haben: Japan lebt schon 20 Jahre mit einem Nullzins und hat eine Verschuldung von 253 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Das Land stagniert zwar, einen Crash gab es aber nicht und auch keine Inflation aufgrund der Geldmengenausweitung.
Geldmengenausweitung in dieser Form muss nicht immer unmittelbar zu Preisinflation führen. Denn die Zentralbank schafft ja auch Erwartungshaltungen. Und bei einer Nullzinspolitik ist die Erwartungshaltung relativ klar: Man erwartet, dass die Finanzwerte steigen. Es kommt zum Abziehen von Ersparnissen und Investitionen hin zu Finanzwerten. Der Realwirtschaft werden Mittel entzogen, eine Sogwirkung entsteht. Man kann jetzt mit geringerem Risiko Renditen einfahren, die nur erzeugt werden durch die Nullzinspolitik, die Geldmengenausweitung der Zentralbanken. Da gehen natürlich viele von riskanteren Unternehmungen ab und verschieben ihr Geld in Finanzwerte.
Weil man da recht bequem Rendite machen kann.
Ja, solange man davon ausgeht, dass die Zentralbank diese Politik weiterführt. Und diese Politik ist eben auch in Japan sozusagen "alternativlos". Nach und nach stellt sich die Wirtschaft darauf ein. Die Folge ist eine "Zombifizierung". Das heißt, dass Unternehmen immer weniger reale Risikoträger sind, sondern durch billige Kredite weitergeführte Betriebsstätten. Die existieren nur noch aufgrund dieser Bedingungen - sie können nur noch bei einem Nullzins ihre Schuldenlast weiter tragen. Es kommt zu einer Bürokratisierung und Verknöcherung der Wirtschaft. Und da würde ich sagen, dass das japanische Beispiel doch ein sehr negatives ist. Das Japan vor 20, 30 Jahren war der Inbegriff der innovativsten Wirtschaft weltweit. Aus dem Nichts sind da wettbewerbsfähige High-Tech-Unternehmen entstanden, die den amerikanischen Firmen an Innovationskraft und Flexibilität deutlich überlegen waren. Das ist heute nicht mehr der Fall. Gewiss, Japan kann noch relativ lange von früheren Erfolgen zehren, das Kapital ist da. Das wäre in Europa nicht anders. Entscheidend ist aber das Potenzial, das verlorengeht - das sieht man auch an Phänomenen wie dem "Cocooning", wo sich junge Leute gänzlich aus dem Leben zurückziehen. Japan ist heute ein abschreckendes Beispiel dafür, was Jahrzehnte dieser alternativlosen Nullzinspolitik bedeuten.
Apropos alternativlos: Die Nullzinspolitik der Zentralbanken war ja eine Folge der Finanzkrise vor mittlerweile mehr als zehn Jahren. Damals war die Welt an der Schwelle der sogenannten "Kernschmelze" des gesamten Finanzsystems, es drohte eine Krise, die möglicherweise die der Dreißiger Jahre in den Schatten gestellt hätte. Waren da die Zinssenkungen nicht wirklich alternativlos? Was hätten die Zentralbanker denn tun sollen?Ein intelligenter Zentralbanker müsste wahrscheinlich zurücktreten. Weil er ernüchtert wäre über den Umstand, dass er auf der Grundlage falscher Modelle und Prämissen Entscheidungen zu treffen hat, von denen die gesamte Wirtschaft abhängt. Ein normaler Mensch müsste unter dieser Kluft zwischen Verantwortung und dem Dilemma der untauglichen Werkzeuge eigentlich zugrunde gehen. Ich würde zu mehr Bescheidenheit raten. Schließlich wissen wir mittlerweile, dass die Prognosen der großen Wirtschaftsexperten, insbesondere die der Zentralbanken, mit der Realität überhaupt nichts mehr gemein haben. Und es besser ist, zu würfeln, als diesen Prognosen zu folgen. Und das liegt nicht einfach nur daran, dass die Modelle falsch sind, sondern an der Unmöglichkeit, komplexe Systeme dieser Art zu modellieren.
Trotzdem: Hätten die Zentralbanker den Crash zulassen sollen?
Das ist eine heikle Frage. Wenn ein Gefährt mit großer Geschwindigkeit sich auf eine Wand zubewegt, wie reagiert man dann? Bremsen und Verletzte riskieren oder ausweichen und aufs Gas steigen? Letzteres kann das Problem verschärfen und den nächsten, dann aber noch schlimmeren Zusammenstoß provozieren. Krisen sind eben auch Korrekturen, scharfe Korrekturen, und stellen als solche in gewisser Form eine Gesundung dar. Man sollte mehr Augenmerk auf diesen Gesundungsprozess legen, sollte den möglichst reibungslos gestalten und die politischen Folgen minimieren. Und da wäre es sicher sinnvoller, den Fokus auf die Ärmsten und nicht auf die Reichsten zu legen, also nicht auf die Vermögenswerte, sondern auf den sozialen Frieden. Es wurde ja oft angeführt, da sind jetzt 29 Billionen Dollar in die Wall Street geflossen und nichts in die Main Street zu den kleinen Leuten. Das ist tatsächlich eine Schieflage. Die Zentralbankpolitik stellt de facto einen Wohlfahrtsstaat für Reiche dar. Sie hat insbesondere die Menschen mit Vermögenswerten geschützt vor der Krise, das heißt vor einer scharfen Korrektur.
"Korrektur" klingt für eine potenzielle Weltwirtschaftskrise ziemlich harmlos . . .
Natürlich wäre das eine schlimme Krise. Aber man muss sich auch bewusst sein, dass sich in einer Wirtschaftskrise keine realen Dinge in Luft auflösen, sondern nur Bewertungen sich ändern. Jede Korrektur ist schlicht eine Umwertung von Werten. Bestimmte Dinge verlieren an Wert, andere gewinnen. Und da wäre eine Redimensionierung der Finanzwerte im Vergleich zu den unternehmerischen Werten schon sinnvoll. Denn das, was wir jetzt haben, stellt keine nachhaltige Situation dar.
Am Buchmarkt gibt es ja mittlerweile genug Crashpropheten. Gehören Sie auch dazu?
Ich glaube nicht an einen großen Crash in dem Sinne, dass plötzlich alles gegen die Wand fährt. Ich glaube an scharfe Korrekturen, aber die sind ja nur ein Crash von Vermögenswerten. Im besten Fall gibt es dann eine alternative Welt, die dann bedeutsamer wird, in der überhaupt kein Crash stattfindet. Viel wahrscheinlicher ist, dass es viele Bruchstellen gibt als einen großen finalen Crash.
Zur Person~ Rahim Taghizadegan
ist als Ökonom, Wirtschaftsphilosoph und Publizist ein Vertreter der Wiener Schule der Ökonomik. Er leitet das Scholarium in Wien, eine Bildungs- und Forschungseinrichtung, und unterrichtet an Universitäten im gesamten deutschsprachigen Raum. In seinem mit Ronald Stöferle und Gregor Hochreiter gemeinsam verfassten Buch "Die Nullzinsfalle" beschäftigt er sich mit den Folgen der Nullzinspolitik für Wirtschaft und Gesellschaft.