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Im literarischen Kosmos der exzentrischen Autorin stellt sich das Sinistere neben das Wundervolle. Eine Begegnung.
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Seit 30 Jahren ist sie ein Stern am Autorenhimmel, erscheint in Frankreich zuverlässig jeden September ein neues Buch von ihr, taucht ihr Name ebenso zuverlässig auf den Listen der großen Literaturpreise auf. Ihre inzwischen 30 Bücher erreichen Millionenauflagen, sind weltweit Bestseller, ihre Fangemeinde, auch bei jungen Lesern, ist riesig.
Wie ein Rockstar inszeniert, ist Amélie Nothomb längst Kultfigur und Schulbuchklassiker in einer Person. In Paris findet man sie im Wachsfigurenkabinett des Musée Grevin oder in einem mit Bücherbergen und Fanpost angefüllten winzigen Büro ihres Verlags Albin Michel im Montparnasse, wo ich sie Anfang des Monats zum Gespräch treffen durfte.
Berühmt sind auch ihre Outfits, ihre überdimensionalen Hüte, ihr Look zwischen Schneewittchen und Gothic Queen, ihre Jabots très 18ème, ihr blutroter Mund, ihre Vampir-Bemalung; die französischen Originalausgaben ihrer Bücher zieren die wunderbarsten Fotos ihres Selbstentwurfs.
Viele Werke Nothombs haben autobiografischen Charakter, sind Reflex und Verarbeitung einer außergewöhnlichen Biografie. Aufgewachsen in Fernost als Tochter eines Diplomaten, der der erste belgische Gesandte unter Mao war, lernt sie Europa, in diesem Fall Belgien und Brüssel, erst mit 17 Jahren kennen; da ist sie schon längst in einem Circulus vitiosus aus Einsamkeit, Magersucht und Schreibmanie gefangen, nachzulesen in "Böses Mädchen".
Wörter geben Halt
In Wahrheit habe sie nicht 30, sondern 105 Romane geschrieben, erzählt sie. Doch von den drei bis vier, die sie pro Jahr schreibt, veröffentlicht sie zum Leidwesen ihres Verlegers immer nur einen. Ihre Romane sind ihre Kinder, unbefleckt empfangen und daher vaterlos. Ständig schwanger, erschreibt sich Nothomb fabelhafte Welten, absurd, amüsant, abgründig, voller Sprachmagie und Witz.
Prägend sind die ersten fünf Lebensjahre in Japan, das sie bis heute schmerzlichst vermisst. Sie war ein fast autistisches Kind, das die Welt und die Menschen nur mit großen Augen in sich aufsog: herrlich nachzulesen in "Metaphysik der Röhren". Sie habe eben zwei Jahre zusätzliche Schwangerschaftsgeborgenheit benötigt, meint sie dazu.
Als sie dann durch ein Stückchen weiße Schokolade zum Leben erwacht, sind es die Wörter, die ihr Halt geben. Schon als kleines Kind lernt sie Wörterbücher auswendig. Sie versteht früh, dass sie wegen der Karriere ihres Vaters alle drei Jahre alles, was sie umgibt, wieder verlieren wird. In einer Art Selbsttherapie klammert sie sich an Literatur und Sprache: Mit 15 übersetzt sie ein Drittel der "Ilias", mit 17 entdeckt sie Nietzsche und Rilkes "Brief an einen jungen Dichter", der ihr den Weg zum Schreiben weist.

Seither schreibt sie, wo immer sie sich aufhält, täglich ab 4 Uhr Früh in einem seltsamen orangefarbenen Schreibdress, der aussieht wie ein japanischer Strahlenschutzanzug, drei bis vier Stunden lang in die immergleichen karierten Spiralhefte. Schlaflos schon seit der Kindheit, ist sie von ganz außergewöhnlicher Vitalität und überbordender Fantasie.
Als Nothomb mit 25 Jahren ihren ersten Roman "Die Reinheit des Mörders" veröffentlicht, staunt die Kritik über die Sprachgewalt, die Raffinesse des Plots, aber auch das Monströse der Hauptfigur. Die Monster, meist Männer, sind geblieben. Häufig finden wir die gleichen Ingredienzien: ein hochbegabtes einsames Kind, clevere junge Frauen und böse alte Männer, toxische Beziehungen, nachgetragene Liebe, Obsessionen aller Art, Rachefeldzüge und Todeswünsche, dazu Champagner, Parfüm und Suspense sowie messerscharfe Dialoge und häufig unerwartete Auflösungen, das Ganze in einem ausgesuchten Vokabular voller brillanter Neologismen.
Erlösung gibt es häufig durch Musik: Ein junges Mädchen wird durch Schuberts Lieder von ihrem Ennui geheilt ("Töte mich"), ein schwieriger junger Mann wird durch eine Nachhilfelehrerin gerettet, die ihn zwingt, Stendhals "Rot und Schwarz" in einer Nacht und Homers "Ilias" in wenigen Tagen zu lesen ("Les aérostats").
Es gibt Märchenanleihen ("Blaubart", "Happy End"), aber auch bissige Gesellschaftssatiren wie "Reality-Show", in welcher Nothomb die Welt der Télé-réalité der Lächerlichkeit preisgibt, und "Mit Staunen und Zittern", in dem sie den gnadenlosen Überlebenskampf in japanischen Firmen thematisiert. Ihr Versuch, dort nach abgeschlossenem Altphilologie-Studium zu arbeiten, lässt sie gedemütigt als Dame pipi, als Klofrau, enden. Immerhin gibt es für zwei Jahre einen reizenden japanischen Geliebten, dem sie in "Der japanische Verlobte" ein literarisches Denkmal setzt. Japan wird endgültig zur Lebenswunde, sie kehrt nach Belgien zurück und schreibt um ihr Leben.
Heroischer Vater
In ihrem vorvorletzten Roman, "Die Passion", ist Nothomb selbst Jesus am Tag vor der Kreuzigung - ein zutiefst menschlicher Jesus, ein sanfter Mann, der eine schöne Frau liebt und den alle verraten, auch die, an denen er Wunder vollbracht hat.

Aber die Passion Christi ist nichts im Vergleich zum Heldenporträt ihres berühmten Vaters in "Premier Sang". Patrick Nothomb hatte das Pech, in seiner ersten Diplomatenstelle als Konsul im Kongo in die größte Geiselnahme des 20. Jahrhunderts verwickelt zu werden: Im Sommer 1964 werden in Stanleyville 1.500 Weiße in Geiselhaft genommen, um die Anerkennung des östlichen Landesteils als Volksrepublik Kongo zu erzwingen. Nothomb, gerade 28 Jahre alt, ist der Unterhändler mit den Rebellen und versucht vier Monate lang, in endlosen palabres gleich einer Scheherazade das Leben der Geiseln zu retten.
Dieser Heldenvater ist 2020 gestorben und musste unter Pandemiebedingungen begraben werden. Die Tochter, die den Vater über alles geliebt und verehrt hat, kann nicht Abschied nehmen und schreibt seine unglaubliche Lebensgeschichte auf: Der Vater Patricks stirbt kurz nach dessen Geburt durch einen tragischen Unfall, die Mutter verwindet diesen Verlust nie und bleibt unnahbar für das Kind, das, sanftmütig und mit langen Locken, bei den Großeltern mütterlicherseits aufwächst. Bis der Großvater beschließt, den verträumten Buben vor der Einschulung einem Abhärtungstest beim tyrannischen Großvater väterlicherseits in einem verwunschenen Schloss in den Ardennen zu unterziehen.
Die Bedingungen sind hart: verarmter Adel, 13 Kinder, die einer darwinistischen Auslese unterworfen werden. Bis zum Alter von 16 Jahren müssen sie sich ihr Essen selbst im Wald zusammensuchen, bei Tisch wird vor allem der Patriarch genährt, die anderen erhalten höchstens Brotkrumen und Wassersuppe, im Winter herrscht Eiseskälte überall. Erstaunlicherweise ist der zarte Patrick im schwarzen Samtanzug mit Spitzenjabot von diesem Leben trotz Hunger und Kälte so begeistert, dass er fortan alle Ferien in dieser Art gequält werden will; so groß ist seine Einsamkeit und so groß sein Wunsch, Teil dieser verlumpten und ausgehungerten Kinderbande zu sein.
Die Tochter verleiht dem Heldenvater ihre Stimme, schreibt eine Art Marcel-Pagnol’scher "Ehre meines Vaters" im Schloss des Großvaters. Das böse Mädchen der französischen Literatur zeigt sich hier von seiner empfindsamen Seite, wie Amélie Nothomb auch im persönlichen Gespräch ganz unerwartet von großer Liebenswürdigkeit und freundlicher Zugewandtheit ist, sprühend vor Charme und Witz.
Leider kommt Diogenes, ihr deutschsprachiger Verlag, mit dem Kinderreichtum seiner Starautorin kaum zurecht: Statt "Premier Sang", das erst im Frühjahr auf Deutsch erscheinen wird, kommt jetzt erst einmal der schräge Familienroman "Les Prénoms épicènes" von 2018 unter dem Titel "Ambivalenz" heraus, wie immer zuverlässig in Deutsche übersetzt von Brigitte Große. "Gleichgeschlechtliche Vornamen", so der französische Titel, tragen Claude und seine Frau Dominique, die beiden Hauptfiguren.
Vornamen sind für die Autorin so etwas wie der Schlüssel zur Person, stehen hier also wohl für die Durchschnittlichkeit und Banalität dieses Ehepaares. Die Namen zweier weiterer weiblicher Figuren sind hingegen auffallend: Reine, deren Rolle lange unklar bleibt und die als moderne Herzogin von Guermantes erscheint, sowie die Tochter von Claude und Dominique, Épicène, die vom Vater mit Hass und Gleichgültigkeit verfolgt wird und mit elf Jahren beschließt, ihn zu töten.
Für die lange Wartezeit bis dahin hat die Autorin ein Bild aus dem Tierreich gefunden: "Es gibt einen Fisch namens Quastenflosser, der über die Fähigkeit verfügt, sich jahrelang auszuschalten, wenn sein Biotop allzu lebensfeindlich wird. Er überlässt sich dem Tod, bis die Umstände seine Wiederauferstehung erlauben." So begeht Épicène einen unsichtbaren Suizid, klammert sich selbst aus dem Geschehen aus.
Familie als Hölle
Warum Claude, der doch unbedingt Kinder wollte, seine Tochter hasst, wird lange nicht klar und macht einen Teil der Spannung aus. Warum er Dominique, die er stürmisch mit Champagner und Chanel No5 umworben hat, nach der Heirat das Leben zur Hölle macht, bleibt sein Geheimnis. In einem plötzlichen Umschwung wird er jedoch zum großzügigen Ehemann, der seine Frau verwöhnt, diesmal gleich mit drei Chanel-Kostümen zum Flakon. So führt Dominique auf einmal das Leben der Rive-gauche-Gemahlin, nimmt teil am exklusiven Leben der Schönen und Reichen.
Irgendwann entgleist die Handlung und es kommt unerwartet zum großen Knall. Épicène studiert danach Englisch in der Provinz, schreibt ihre Abschlussarbeit über das Verb to crave, was so viel heißt wie "verzweifelt nach etwas verlangen". Aber der Mangel an elterlicher Liebe, nach der sie verzweifelt verlangt, kann niemals kompensiert werden, diese Wunde verheilt nie. Wieder einmal ist die Nothomb’sche Hölle die auf Lüge, Gewalt und Manipulation aufgebaute Familie. Feine Haarrisse brechen auf, die sich fast unmerklich vertiefen, bis es zu Unerhörtem kommt.
Wie bei ihrem Lieblingsmaler Hieronymus Bosch gibt es auch bei Amélie Nothomb das Monströse neben dem Erhabenen, das Groteske neben der vollkommenen Schönheit, das Komische neben dem Tragischen: ein eigener Kosmos, eine unverkennbar eigene Welt, ein sehr eigener Ton. Einmal mehr: Chapeau, Amélie!
Amélie Nothomb: Ambivalenz. Roman. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Diogenes, Zürich 2022, 128 Seiten, 20,60 Euro.
Barbara von Machui ist Romanistin und Germanistin und engagiert sich in Heidelberg im Deutsch-Französischen Kulturkreis.