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Die falsche Hand

Von Günther Waldenberger

Gastkommentare
Günther Waldenberger hat aus eigener Betroffenheit 2017 die "Gesellschaft umgelernter Linkshändiger" (www.gesulh.at) gegründet.
© privat

10 Prozent der Minderjährigen schreiben mit links - aber mehr als 30 Prozent sind linkshändig geboren. Das Umlernen löst Stress aus.


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Mangelnde Lesekompetenz vieler Kinder ist nur die Spitze des Eisberges. Eltern oder die zeitgenössische kindliche Lebensart zu beschuldigen, greift zu kurz: Leseschwäche gab es vor 60 Jahren, lange vor den Sozialen Medien, auch schon, ebenso wie ADHS, Stottern, Legasthenie oder Dyskalkulie. Diagnosen wurden damals meist nicht von der Fachwelt, sondern von Bezugspersonen gestellt: Das Kind wäre schon fähig, sei aber faul. Solcherart brachte man vieles auf einen Nenner.

Damals wie heute verbirgt sich hinter vermeintlichem Unwillen eine Verletzung: So machen etwa linkshändige Kinder, die mit der rechten Hand schreiben müssen, den Versuch einer lateralen Umpolung durch. Die Folge ist eine Fehlbelastung des Gehirnes. Umgelernte Linkshändigkeit - kurz ULH - stört die Konzentration, das Lernen, vergällt den Schulalltag, ermüdet, kränkt die dennoch intelligenten Kinder. Reaktionen wie Rückzug, Gehemmtheit, störrisches verhalten sollen uns nicht wundern.

ULH entsteht auch ohne pädagogische Absicht: Rechtshändiges Agieren wird viel häufiger vorgelebt. Unsere Schreibschrift ist optimiert für Rechtshändige. Gerade auch geschickte linkshändige Kinder sind betroffen. Sie lernen vorerst leichter mit der nicht dominanten rechten Hand zu schreiben. 10 Prozent der Minderjährigen schreiben mit links - aber mehr als 30 Prozent sind linkshändig geboren. Umgelernte (verdeckte) Linkshändigkeit stresst also 20 Prozent der Schulkinder.

Körperliche Leiden durch umgelernte Linkshändigkeit

Auswirkungen von ULH auf das Immunsystem und Entwicklungsstörungen sind beschrieben und beobachtbar. Die laterale Fehlbelastung führt bereits früh zu Verspannungen und zur Störung der Körperhaltung, vom Kiefer bis zum Knickfuß. Bei Migräne, Tics und anderem liegt meist ein ULH-Hintergrund vor. Der hohe Anteil von ULH bei Depressiven, Messies, Suchtkranken, Suiziden und anderen prekären Biografien soll uns nicht wundern.

Viele Symptome werden als idiopathisch angesehen. Wir kennen Migränepatientinnen und -patienten, die durch bewusstes Agieren mit der linken Hand im Alltag fast beschwerdefrei wurden. Umgelernte Linkshänder bekamen sogar nach dem Rücklernen auf die dominante linke Schreibhand wieder gut Luft durch die Nase. Die jahrelange Behandlung der Symptome mit Nasensprays fand ein Ende. Falls ULH vorliegt, besteht eine gute Chance, an der Ursache zu arbeiten. Das rührt am Geschäftsmodell Symptombehandlung. Laut Uniced haben in Österreich mehr als 18 Prozent der 10- bis 19-Jährigen psychische Probleme. Bei wie vielen ULH der Auslöser ist, wurde nicht untersucht. Aber Tabletten bekommen sie genug.

Linkshänder werden eh nicht mehr umgeschult, erklärt das Bildungsministerium. Der kanadische Psychologe Albert Bandura gab uns eine wissenschaftliche Erklärung für die rasche Aneignung von Verhaltensweisen und Fertigkeiten durch Kinder im Zuge des Lernens am Modell (Nachahmungslernen, Beobachtungslernen, Imitationslernen). Viele Kinder zeigen die Händigkeit unklar an, weil auch der Handgebrauch ihrem Imitationslernen unterliegt. Bezugspersonen, die daraus falsche Schlüsse ziehen, legen dann dem nun verdeckt linkshändigen, also pseudo-rechtshändigen Kind den Stift in die rechte Hand . . .

Händigkeit in den Eltern-Kind-Pass

Will man Kinder vor ULH schützen, muss die Händigkeit bereits im Rahmen der Eltern-Kind-Pass-Untersuchung erkannt werden. Zahlen zum Anteil von mit links schreibenden Schulkindern liegen laut Statistik Austria nicht vor. Es fehle der politische Auftrag, heißt es auf Anfrage. Will die Politik gar nicht wissen, was auf die Pisa-Ergebnisse drückt? Wie viele Nachhilfestunden und kindlicher Frust blieben durch die Vermeidung von ULH erspart? Der volkswirtschaftliche Schaden ist wohl auf mehr als fünf Milliarden Euro pro Jahr zu schätzen.

Derweil bleiben Betroffene weitgehend unverstanden, sind Mitbetroffene ratlos, ist die Fachwelt ohne Konzept für den Umgang mit ULH. Betroffene werden um die richtige Diagnose geprellt. Stattdessen behandelt man Symptome, gewährt Eingliederungshilfen mit wenig Erfolg. Koste es, was es wolle. An der Ursache zu arbeiten, wäre für das Selbstwertgefühl der Betroffenen dringend erforderlich und auch effizienter. Im "Personenkomitee für gleiche Chancen" fordern Österreicherinnen und Österreicher mit bestem Ruf Chancengleichheit durch die aktive Vermeidung von ULH.