Der renommierte Politik-Professor Mark Blyth spricht über die Fehler der Vergangenheit von Mitte-Links-Parteien.
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"Wiener Zeitung": "Rassismus" ist die faule Ausrede der Mitte-Links-Parteien. So haben Sie es einmal in einem Vortrag formuliert. Was meinen Sie damit?
Mark Blyth: In den vergangenen 20 Jahren haben die Mitte-Links-Parteien wie New Labour in England und die "Neue Mitte" von Gerhard Schröders SPD gesagt: "Wir akzeptieren die ganze neue neoliberale Weltordnung. Alles davon. Lohnflexibilisierung. Das Abwenden von der armen Bevölkerung, die Abkehr von den Gewerkschaften. Wir werfen uns in die Umarmung der Globalisierung. Wir werden jetzt kosmopolitisch und liberal. Das war toll für 20 Prozent der Bevölkerung. Damit schrumpfte aber der Anteil an den Wählerstimmen kontinuierlich. Der Aufstieg der Populisten, links genauso wie rechts, ist also eine Antwort, eine Revolte, auf 20, 30 Jahre der steigenden Kosten sowie sinkenden Löhne, sowie dem Fehlen von sozialen Aufstiegsmöglichkeiten. Wenn die Parteien der Mitte heute klagen, und sagen, "ich verstehe nicht wieso", kann ich ihnen nur ausrichten: Ihr habt dabei mitgemacht, diese Welt zu erschaffen. Also ist es nicht überraschend, dass sich ihre Stammwähler gegen sie wenden. Aber dazu müssten sie zugeben, dass sie Fehler gemacht haben, und der Mehrheit der Bevölkerung geschadet haben. Es ist also viel einfacher, den Populismus damit zu erklären, dass die Wähler "wohl alle einfach Rassisten" sind.
Mitte-Links-Parteien können sich aber längst nicht mehr kämpferisch geben, schließlich sind sie lange schon "im System". Das sieht man zuletzt am Beispiel Deutschland, wo die SPD zur Räson gerufen wurde, sich "staatstragend" zu verhalten. In Ländern mit Koalitionsregierungen ist die Mitte-Links-Partei oft noch Teil der Regierung.
Ja, aber ihr Stimmenanteil schrumpft. Beispiel SPD: Die konnten früher 35 Prozent der Stimmen bequem für sich beanspruchen. Dann wurden sie der Steigbügelhalter von der CDU und gingen in eine Regierung. Und sanken auf 28 Prozent. Dann 22 Prozent. Jetzt wollten sie aus der Regierung draußen bleiben. Aber das wird wohl nichts. Bei der nächsten Wahl werden es dann wohl nur noch 13 Prozent sein. Wir sehen den Mitte-Links-Parteien beim Sterben zu.
Viele Mitte-Links-Parteien versuchen nun gegen zu steuern, indem sie sich kämpferischer gegenüber dem Kapital geben. Zieht das bei den Wählern nicht mehr?
Nein, weil sie über keine Glaubwürdigkeit mehr verfügen. Das war deutlich bei der SPD in der jüngsten Deutschland-Wahl. An einem Tag erklärt SPD-Spitzenkandidat Martin Schultz: "Wir müssen etwas gegen die Ungleichheit tun, für Lohnwachstum, wir müssen uns mit den Gewerkschaften zusammen tun." Am nächsten Tag sagt er dann: "Aber ich bin natürlich unternehmensfreundlich. Das ist eine globalisierte Welt." Natürlich kann beides stimmen. Aber es vertraut ihnen eben niemand, wenn sie von einer Position zur anderen hin und her pendeln.
Ein Problem der Mitte-Links-Parteien ist nun sicher auch, dass es sie schon so lange gibt, und mit der langen Zeit kommen eben Skandale und gebrochene Versprechen dazu. Allerdings scheinen konservative Parteien nicht dieses Problem zu haben. Wieso?
Sagen wir, dass ein Drittel jedes Landes einfach konservativ ist. Und mit Konservativismus einher geht oft auch ein Nationalismus. Und Nationalismus ist eine Ideologie, die wahnsinnig einfach zu verkaufen ist. Es geht um das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Und die Art von Liberalismus und des globalen Kosmopoliten, die die Mitte-Links-Fraktionen für sich beansprucht haben, verneint diese Art von Gemeinschaft.
Also haben die Konservativen einen inhärenten Startvorteil: Wenn die sagen "Wir, das Volk", dann weiß man, über wen sie reden. Oder über wen sie nicht reden. Aber wenn die Mitte-Links-Parteien sagen, "Wir, das Volk", dann weiß man nicht, über wen sie reden - oder zu wem sie reden.
Sie wollen normalerweise zu den Niedrigverdienern und der Mittelschicht sprechen.
Ja, das denken sie vielleicht. Aber ich gebe Ihnen ein Beispiel: In den USA wurden während des Wahlkampfes die E-Mails der Demokratischen Partei gehackt. Jemand hat sich daraufhin die Mühe gemacht, die Adressaten der Mails zu gruppieren, und sie geografisch anzuordnen. Um herauszufinden, zu wem die Demokraten eigentlich sprechen. Und wo diese Menschen wohnen. Der Ort mit den meisten E-Mails war Martha’s Vineyard. Das ist eine winzige Insel, auf der nur Millionäre leben. Der am zweitstärksten angemailte Ort waren die East Hamptons, wo die wohlhabenden Hedge Fund Manager leben. Dann schien San Francisco auf - die wohlhabenden Menschen der Tech-Industrie. Dann kam New York. Dann Washington. Und alle anderen Orte waren Lichtjahre als Adressaten in dieser geografischen Gruppierung entfernt. Also wenn das ihre Welt ist, dann ist es schwierig mit der wirksamen Vertretung von Anliegen von Menschen, die man nicht kennt.
Und noch dazu: Wenn man davon ausgeht, dass in Zeiten der Verunsicherung die Klaviatur der Nationalismen immer einfacher zu bespielen sein wird, dann haben die Konservativen einfach immer einen Vorteil.
Ihr Buch, "Austerity - the History of a Dangerous Idea" (auf Deutsch: "Wie Europa sich kaputt spart - die gescheiterte Idee der Austeritätspolitik") wurde sogar von der liberalen "Financial Times" zu einem der besten Sachbücher 2013 auserkoren. Den Wählern war es egal. Europa wählt immer noch konservativ - und damit oft die Sparpolitik. Und das auch in Ländern, die sich von der EU harte Sparmaßnahmen gefallen lassen mussten. Spanien hat etwa eine konservative Regierung.
Aber in Spanien wird die konservative Minderheitsregierung von den liberalen Ciudadanos gestützt, die eine Art Populismus-Partei der Mitte sind. Die zweitstärkste Partei bei den Wahlen wurden die Linkspopulisten Podemos. In Italien ist die linkspopulistische 5-Sterne-Bewegung derzeit am stärksten.
Sie zeigen in Ihrem Buch auf, dass es in den 1930er Jahren eine Machtverlagerung hin zu den Arbeitern gegeben hat. Dann, 40 bis 50 Jahre später, In den 1970ern, den 1980ern schwang das Pendel in die andere Richtung, hin zur Machtverlagerung Richtung Kapital. Das ist jetzt auch wieder 40 Jahre her. Ist es nicht Zeit für den nächsten zyklischen Abschnitt?
Ja, wir sind auch am Beginn des neuen Zyklus. Denn, was ist Populismus anders, als der Versuch, das System umzuschreiben. Die Wählerstimmen der Parteien der Mitte nehmen ab. Populisten links und rechts werden immer mächtiger. Es gibt Wissenschafter, die es rein ökonomisch sehen: Die sehen nur den Zyklus der Wirtschaft - und wenn wir jetzt die nächsten fünf Jahre gute Arbeitsdaten haben, dann würden nach ihrer Lesart, die Populisten verschwinden. Ich glaube das allerdings nicht. Wir sind gerade in einer Periode, wo alle Linien in der Politik neu gezeichnet werden. Das ist jetzt nicht notwendigerweise etwas Schlimmes, auch wenn immer so getan wird. Aber wenn es diese populistische Option nicht gibt, dann bliebe uns liberalen Demokraten wirklich nichts anderes übrig, als uns von den Eliten erzählen zu lassen, was wir tun sollen. Dafür dürfen wir konsumieren, wie viel wir wollen. Und wir dürfen Schulden machen. Und wir können, jeder für sich, unser globalisiertes Leben leben. Aber niemand will also dann unsere Partizipation. Eine populistische Demokratie dagegen, egal ob rechts oder links, ist eine echte Demokratie. Also ich glaube, wir sind in einer Periode der echten Demokratie angekommen. Menschen versuchen die Welt, die sie so nicht wollen, zu verändern.
Mark Blyth
Der gebürtige Schotte ist derzeit Eastman Professor für politische Ökonomie an der Brown University in den USA. Sein bekanntestes Werk ist "Austerity - History of a Dangerous Idea" und ist im Oxford University Press Verlag erschienen. Blyth war auf Einladung des Kreisky Forums in Wien.