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Die Fehlbarkeit eines Unfehlbaren

Von Christian Ortner

Gastkommentare
Christian Ortner.

Abermals gab der Papst zu erkennen, wie suspekt ihm der Kapitalismus ist. Den Armen, denen er sich verpflichtet fühlt, hilft er damit nicht wirklich.


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Sind Christen und Kommunisten eine Art bei der Geburt getrennter Zwillinge, mehr wesensverwandt denn Antagonisten? Zu diesem angesichts der blutigen Geschichte des 20. Jahrhunderts etwas gewöhnungsbedürftigen Schluss kann kommen, wer sich ein Interview in der italienischen Zeitung "Il Messagiero" mit Papst Franziskus zu Gemüte führt und seine Worte für bare Münze nimmt: "Die Flagge der Armen ist christlich. Die Armen und ihre Bedürfnisse bilden das Kernstück des Evangeliums. Die Kommunisten sagen, all dies sei Kommunismus. Ja. Dies war es 20 Jahrhunderte später. Doch man muss ihnen auch klarmachen, dass sie mit diesen Ideen gleichzeitig Christen sind." Ausgerechnet vom Papst vernehmen zu müssen, dass der Kommunismus so ähnliche Ideen vertritt wie das Christentum und Kommunisten demnach sozusagen ungeoutete Christen sind, ist, höflich formuliert, eher erstaunlich. Denn bisher haben wir ja eigentlich geglaubt, dass der Kommunismus angesichts dutzender Millionen von Opfern eine der widerwärtigsten und blutrünstigsten Ideologien des 20. Jahrhunderts war. Und wie sehr die kommunistischen Machthaber sich dem Gedankengut der Christen verpflichtet fühlten, werden dem Papst sicher jene Christen erläutern können, die Gulag, Straflager und Verfolgung in der Sowjetunion und deren Satellitenstaaten überlebt haben.

Man könnte das trotzdem als reichlich extravagante Privatmeinung eines älteren Herrn ad acta legen, wäre er nicht mit knapp eineinhalb Milliarden Anhängern einer der einflussreichsten Meinungsführer der Welt. Sein Wort hat mehr als Gewicht. Umso befremdlicher ist, dass er sich nicht das erste Mal als jemand präsentiert hat, der dem marktwirtschaftlichen, wettbewerbsorientierten und globalisierten Wirtschaftssystem eher ablehnend gegenübersteht und gewisse Präferenzen für jene südamerikanische Befreiungstheologie zu erkennen gibt, die ebenso antikapitalistisch wie politisch gescheitert ist.

Schon Ende 2013 schrieb der Papst von einer "Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel" und sprach gar von einer "Wirtschaft, die tötet". Es entstehe "eine neue, unsichtbare, manchmal virtuelle Tyrannei". Und erst jüngst fügte er hinzu, dass der Kapitalismus Krieg brauche, um zu überleben; eine angesichts der europäischen Geschichte der vergangenen Jahrzehnte eher absturzgefährdete These. Davon, dass die Ausbreitung des so denunzierten kapitalistischen Wirtschaftssystems in Verbindung mit der Globalisierung hunderte Millionen aus bitterster Not geführt hat und damit zum mit Abstand wirksamsten Armutsbekämpfungsprogramm der Geschichte wurde, schweigt sich Franziskus freilich permanent aus.

Seine Auslassungen sind deshalb so problematisch, weil sie zu einem sehr heiklen Zeitpunkt kommen. Seit Ausbruch de Wirtschaftskrise nehmen protektionistische Tendenzen zu, ist der Freihandel teilweise in die Defensive geraten und betreiben große Nationen wieder zunehmend nationalistische Wirtschaftspolitik. Die Worte des Papstes sind geeignet, diesem Trend eine Art spirituelles Fundament zu geben - zum Schaden jener Abermillionen, die dank Welthandel und freier Märkte der Armut entkommen und ihren Wohlstand mehren konnten.